Kaltes Herz
Vorhangs, schob ihn zur Seite, nur ein bisschen, nur so viel, dass er sehen konnte, ohne gesehen zu werden.
Als Henriette verschwitzt und fröstelnd zugleich den Pflog-Hof erreichte, war noch immer niemand im Waschhaus, doch sie wusste, dass jeden Moment die Seitentür aufspringen und ihre Cousinen herauskommen mussten, gefolgt von Tante Johanne, die auf der oberen Stufe stehen bleiben und den Mädchen nachsehen würden, bis sie im Waschhaus verschwunden waren, bevor sie sich umdrehte, um ihren eigenen Geschäften nachzugehen.
Henriette kühlte sich Stirn und Nacken mit eisigem Wasser aus der Pumpe, trank. Dann riss sie eine Handvoll Gras aus, das sich am Fuß der Hofmauer zwischen den Steinen hervorgeschoben hatte, und säuberte ihre Schuhe, eine Hand an die Wand gestützt.
Sie kannte das Gefühl, es war weniger ein Ahnen als eine Lichtempfindung, eine Art Helligkeit, die von hinten in sie einsickerte und ihr sagte: Du wirst gesehen. Sie spürte die Blicke in ihrem Rücken als beinahe körperliche Präsenz, genau wie sie es zu Hause in Berlin gespürt hatte, wenn der Mann mit dem Opernglas sie beobachtete. Wenn er wirklich hier war, würde sie Tante Johanne von ihm erzählen, sie würde keine Heimlichkeiten mehr pflegen. Henriette richtete sich auf und blickte sich um, um dem Unvermeidlichen entgegenzusehen.
Die Seitentür war noch immer geschlossen, kein Mädchen im Hof, keine Tante Johanne in Sicht und auch kein Mann mit Opernglas. Henriette war allein. Es mussten die Nerven sein, die ihr einen Streich spielten. Sie wollte sich eben wieder umdrehen, um ihre Schuhe so weit zu säubern, dass sie damit ins Haus gehen konnte, als sie die Bewegung wahrnahm. Dort am Vorhang, das dritte Fenster des Westflügels. Dort stand jemand. Und plötzlich war Hund neben ihr, er riss an seiner Kette und bellte, als gelte es, den Teufel zu vertreiben.
Während Henriette noch versuchte zu begreifen, was sie sah, hörte sie den Wagen des Wäschefahrers, der durch das geöffnete Hoftor kam. Sie sah nicht hin, denn ihr Blick war gefesselt von einer Hand, nein, einer Klaue, die den Rand des Vorhangs am Fenster des Westflügels hielt, und von einem Paar brennend heller Augen. Das rhythmische Rollen, das ohne Unterlass Haus und Hof erschütterte, erschien Henriette plötzlich betäubend laut, und da waren diese Augen, und unter den Augen …
Henriette fühlte sich gepackt, ein weiterer Körper verstellte ihr die Sicht, jemand stand vor ihr, hielt sie an den Schultern fest.
«Sie sind also endlich wieder gesund?», sagte Heinz Graf. «Ich habe mich schon gefragt, wo Sie geblieben sind.» Er ließ Henriettes Schultern los und salutierte. «Melde gehorsamst, Auftrag ausgeführt. Ich komme, um meinen Lohn zu holen.»
Henriette blickte in das Gesicht mit dem fliehenden Kinn, sah blassrosa Lippen, die auf ihr Gesicht zukamen, und verstand nicht, was diese Worte und die Bewegung zu bedeuten hatten, bis es geschah: Die Lippen pressten sich auf ihre Lippen, die Hände hielten ihre Schultern fest gepackt, und es schien ewig zu dauern. Dann fühlte sie eine Zunge, die nass über ihre Lippen leckte und versuchte, sich in ihren Mund zu schieben, sie fühlte kalten Speichel. Erst jetzt wehrte sie sich, riss sich los.
Heinz Graf lachte, als er einen Schritt zurücktrat, die Mütze zog und sich tief verbeugte.
«Tausend Dank, schönes Fräulein», sagte er. «Und wenn Sie mal wieder ein Geschäft machen möchten, stehe ich jederzeit zur Verfügung.»
Er ging mit federnden Schritten zu seinem Wagen, riss die Türen des Laderaums auf.
Henriettes Blick kehrte zu dem Fenster zurück, zu dem Vorhang. Die hellen Augen waren noch immer da. Was sie sah, konnte nicht real sein, musste ein Albtraum sein. Das Gesicht, das zu den Augen gehörte, besaß keine Nase, eine flammendrot glänzende Lippe spannte sich über die obere Zahnreihe, einen Unterkiefer gab es nicht, dort war nur ein klaffendes Loch und wildes Fleisch, das über die Wangen hinaufwucherte. Hund war noch immer neben ihr, bellte, und Henriette stand wie festgenagelt und hielt sich an seinem Halsband fest.
«Henriette!»
Die Stimme ihrer Tante kam wie aus weiter Ferne, aber sie nahm die Wut darin dennoch wahr. Beinahe reizte es sie zum Lachen, als sie bemerkte, dass dies einer der seltenen Fälle war, in denen ihre Tante sie direkt ansprach.
Henriette wollte sich abwenden, fortrennen. Fort von dem Monster hinter dem Vorhang, fort von der Wut, die ihr diese Augen entgegenbrachten, vor
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