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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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schwerer von den zähen Lehmklumpen, die an ihren Sohlen haften blieben.
    Nachdem Henriette ein gutes Stück gegangen war, setzte sie sich auf einen umgestürzten Baum und suchte sich einen Stock, mit dem sie den Lehm von den Schuhen kratzen konnte. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, sah in den Himmel, der sich erneut mit Dunst bedeckte, weiß und flüchtig noch, doch es sah so aus, als würde das Wetter sich schon wieder eintrüben.
    «Wenigstens war ich früh genug draußen, um ein wenig Blau zu sehen», sagte Henriette laut.
    Ihre Stimme klang ungewohnt rau und tief in ihren Ohren, und die Stille danach fühlte sich wachsam an, als warte sie darauf, dass sie weitersprach. Henriette fuhr zusammen, als hinter ihr Zweige brachen.
    Sicher bloß ein Dachs. Vielleicht auch Wildschweine auf der Suche nach Schnecken. Oder gab es in dieser Gegend Wölfe? Henriette stand langsam auf und drehte sich um. Sie hatte Tiere bisher nur eingesperrt erlebt, in Menagerien, und dann waren es exotische Tiere gewesen, Affen, Schlangen, Tiger, und sie hatten ihr immer leidgetan. Während Henriette ins Unterholz spähte, fühlte sie plötzlich Freude in sich aufsteigen. Wenn sie die Tiere sehen könnte, wenn sie es vielleicht sogar zuließen, dass sie sie berührte … Vorsichtig stieg Henriette über den Baumstamm hinweg, auf dem sie gesessen hatte, hob den Rocksaum und bewegte sich, so leise es ihr möglich war, dorthin, wo die Bäume dichter standen. Nach zwanzig Metern ging es steil abwärts, sie hatte den Rand eines großen Tobels erreicht, ein alter Erdeinsturz, den Bäume und Unterholz im Laufe der Jahre zurückerobert hatten. War so etwas nicht ein perfekter Platz für wilde Tiere, windgeschützt und dämmerig, weil weniger Licht den Waldboden erreichte? Hüfthoher Farn durchnässte Henriettes Rock mit Tau, als sie den Hang hinabstieg. Immer wieder blieb sie stehen und lauschte auf das Leben im Wald, erkannte hier den Ruf eines Kuckucks, dort das schnarrende Geräusch eines Spechts und gelegentlich ein Knacken, ein Rascheln. Etwas bewegte sich, und es war nah. Henriette ging in die Hocke, verbarg sich hinter einem großen Farn und wartete.
    Zuerst erkannte sie zwei dunkle Säulen, die sich durchs Unterholz bewegten. Der Gang wirkte schleppend, ein Bein schien steif zu sein. Es dauerte Sekunden, bis sie begriff, dass es menschliche Beine in dunklen Hosen waren. Darüber kam ein rotbrauner Rock, ein breiter Rücken zum Vorschein. Was jedoch fehlte, war der Kopf. Der Mann hatte ihn so tief zwischen die Schultern gezogen, dass es von Henriettes geduckter Position so aussah, als hätte er überhaupt keinen.
    Das war kein Förster und auch kein Jäger, er hatte es eilig, von hier fortzukommen. Hatte er Henriette gehört, hatte sie ihn bei irgendetwas überrascht? Sie erstarrte, als ihr klarwurde, dass er sie hätte angreifen können, während sie allein und schutzlos auf ihrem Baumstamm gesessen hatte. War es das, was sie hinter sich gehört hatte? Der Mann bewegte sich in Richtung des Pflog-Hofs. Was hatte er dort vor?
    «Dummkopf», flüsterte Henriette.
    Es war der einzige Weg Richtung Stadt, wohin sollte der Mann sonst gehen? Er hat eben auch einen Morgenspaziergang gemacht, dachte sie. Und sie sollte jetzt besser nach Hause gehen. Der Wald erschien ihr plötzlich nicht mehr verheißungsvoll, sondern fremd und gefährlich, und sie hatte auch keine Lust mehr, irgendwelchen Tieren zu begegnen.
    Sobald der Mann außer Sicht war, stand Henriette auf. Ihre Füße waren eingeschlafen. Sollte sie besser warten, ihm einen Vorsprung lassen? Was, wenn er irgendwo auf sie wartete? Wenn er sie gesehen hatte und … Unsinn! In dem Fall hätte er nicht erst vor ihr weglaufen müssen, dann wäre es für ihn viel einfacher gewesen, sie gleich hier unten in dem Tobel anzugreifen.
    Dann überfiel Henriette ein Gedanke, der sie beinahe aufschreien ließ. War er es gewesen? Der Mann mit dem Opernglas? Stimmte die Statur? Hatte er sie beobachtet? Was wollte er von ihr?
    Henriette spürte einen Anflug von Panik, dennoch bemühte sie sich um klare Gedanken. Ob dieses Phantom nun irgendwo auf sie lauerte oder nicht, sie musste den Weg zurück in jedem Fall gehen, und sie musste ihn in jedem Fall allein gehen. Henriette nahm ihren Mut zusammen, raffte den Rock und machte sich den steilen Hang des Tobels hinauf auf den Heimweg.
     
    Heinrichs Rippen schmerzten, sein Gesicht schmerzte, die Hände schmerzten, das rechte Bein, die Furchen in dem

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