Kaltes Herz
der Wut in Tante Johannes Stimme, dem wütenden Gebell des Hundes. Nur schienen ihre Füße nicht zu begreifen, was sie von ihnen wollte. Und dann explodierte ein Schmerz in ihren vom Ziegenpeter noch immer empfindlichen Wangen, erst rechts, dann links. Henriette schrie auf. Sie war noch nie im Leben körperlich bestraft worden, nie hatte ihre Mutter ihr ins Gesicht geschlagen. Der Schmerz schoss ihr bis ins Schlüsselbein hinab und in die Ohren hinauf.
«Dirne!», schrie Tante Johanne.
Selbst ihre Stimme schien zu schmerzen. Hund zog verschreckt den Schwanz ein und trottete zurück an seinen Platz unter dem Vordach der Remise, als erwarte er selbst Schläge.
«Ins Haus! Sofort!»
Johanne packte sie am Arm und zog sie hinter sich her, Henriette sah kaum etwas durch die Tränen, die ihr aus den Augen schossen, sie stolperte über die Stufen, wäre beinahe gefallen.
«In dein Zimmer! Über deine Strafe sprechen wir noch. Du kannst schon einmal anfangen zu beten.»
Tante Johanne gab sich nicht damit zufrieden, sie nach oben zu schicken, sie schleifte sie höchstpersönlich die Treppen hinauf.
Dann krachte die Tür hinter Henriette zu, und sie hörte, wie der Schüssel im Schloss umgedreht wurde.
Ohne nachzudenken, ließ Henriette sich gehorsam vor ihrem Bett auf die Knie fallen, faltete die Hände und legte ihre brennende Wange auf die kühle Tagesdecke. Doch ihre Gebete hatte sie vergessen. Sosehr sie sich anstrengte, ihr fiel keines ein.
Stattdessen begann sie zu dem langsam rollenden Herzschlag des Hauses die Melodie zu summen, die ihr auf dem Weg in den Wald geschenkt worden war …
und wir vermissen, um was wir nicht wissen …
Wie zur Begleitung setzte nach wenigen Takten eine zweite Stimme ein, die wortlos zum Himmel schrie.
Henriette wusste nicht, ob diese Stimme nur in ihrem Kopf existierte oder ob es sie tatsächlich gab. Sie schien aus den Wänden zu kommen, von weit unten. Vielleicht aus dem Westflügel. Vielleicht war es die Stimme des Monsters, das sie gesehen hatte. Falls es dieses Monster wirklich gab, falls sie es nicht bloß geträumt hatte.
Ida konnte nicht anders, als die mit Butter, Ei und Mehl verklebten Hände auf die Ohren zu pressen, als aus dem Westflügel ein Heulen wie von einem Werwolf heraufdrang. Es klang, als säße dort etwas Wildes und Böses gefangen. Als Erstes lief sie in den Hof hinaus, um nach Hund zu sehen, er hatte vorhin schon so aufgebracht geklungen.
Das alte Tier bot einen jämmerlichen Anblick, wie es sich mit eingeklemmtem Schwanz und angelegten Ohren an die Hofmauer drängte. Ida ließ Hund von der Kette und brachte ihn in die Remise, wo er sich dankbar in eine Ecke zurückzog.
«Nutzloses Vieh», sagte sie zärtlich, bevor sie die Tür schloss.
Sollten tatsächlich einmal Wölfe oder wilde Hunde in den Hof eindringen, wäre Hund ihnen keine Hilfe. Das alte Tier tat ihr leid.
Das Heulen war hier draußen leiser, aber es war deutlich genug vernehmbar, und mittlerweile waren auch Katharina und Maria herausgekommen, um zu sehen, was los war, und Ernestine und Hulda hatten die Köpfe oben aus den Fenstern ihrer Plättstube gesteckt. Nur von Henriette war noch immer nichts zu sehen, und Ida begann sich Sorgen um sie zu machen. Sie war heute früh beim Aufwachen nicht da gewesen, sie war nicht beim Frühstück gewesen, niemand hatte sie gesehen.
«Was ist das?», wollte Maria wissen.
Ida lief ins Haus zurück, um nach Mutter zu suchen. Etwas musste bei Vater im Keller sein, etwas, das dort nicht hingehörte.
Als sie ins Haus kam, schloss Mutter gerade die Tür zum Westflügel ab. Sie sah zerzaust aus, und auch wenn sie es zu verbergen versuchte, stand in ihren Augen deutlich die Angst.
«Was ist passiert?»
Mutter antwortete nicht.
«Ist er das?»
Mutter nickte. «Hör zu, ich … werde ums Haus gehen und die Kellertür zuschließen. Ist Heinz noch da?»
Ida schüttelte den Kopf. «Der ist vor ein paar Minuten gefahren.»
«Dann musst du das Pferd nehmen. Du musst dem Professor telegraphieren, er muss kommen, sofort.»
«Wo ist Hetti?»
«Henriette hat Stubenarrest und wartet auf ihre Strafe. Sie ist ein anstandsloses, liederliches … und, ach was. Beeile dich lieber.»
Idas Herz machte einen Satz. Hatte Hetti gebeichtet, was zwischen ihnen vorgefallen war? Sie lief in die Küche zurück, um ihre Hände vom Teig zu befreien. Hoffentlich hatte Hetti nichts von ihrem Schatz verraten. Bitte, bitte, Hetti, sei keine Verräterin.
Heinrichs Kehle
Weitere Kostenlose Bücher