Kaltes Herz
innen.
Charlie lauschte, alles blieb still im Haus. Er schlüpfte in die Wohnung, drückte die Tür in ihre Ausgangsposition und stellte, damit sie nicht von allein wieder aufschwang, einen kleinen Tisch davor, der als Ablage für Hut und Handschuhe diente.
«Bitte, setzen Sie sich.»
Professor Altheim kam Willem viel zu gebrechlich vor, eine dürre Gestalt, wie ein Strichmännchen, das er mit Holzkohle auf die Steinplatten im Hof gezeichnet hatte, wo er als kleines Kind gespielt hatte. Nur dass Altheim weiß war, weiße Haut, weißes Haar.
Frau Keller war das glatt Dreifache von ihm, und ihre Bewegungen wirkten fahrig, so als könnte sie jeden Moment die Fassung verlieren. Sie setzte sich, und kurz glaubte Willem, sie habe ihn entdeckt hinter seiner Erdbeertorte mit Schlag und einer Zeitung, in die er, wie ein Profi, mit nassem Finger ein kleines Loch gebohrt hatte, durch das er schauen konnte.
«Sie haben einen Brief von Henriette erhalten?», fragte Frau Keller atemlos. Ihre Wangen waren rotscheckig, sie war außer Atem.
«So ist es, werte Frau Keller.» Altheims Rücken war schmal, aber er saß aufrecht. «Obwohl Sie mir mit der Polizei gedroht haben, sollte ich mich zu Handlungen hinreißen lassen, die Sie als Belästigung empfinden, habe ich mich entschlossen, das Wagnis in diesem besonderen Fall einzugehen.»
«Ja, schon gut», sagte Frau Keller umstandslos, und als ein Kellner an den Tisch kam, bestellte sie Zitronenlimonade und Altheim einen Cognac.
«Wo ist der Brief?»
Altheim zog ein Taschentuch aus dem Jackett und schnäuzte sich umständlich, bevor er antwortete.
«Nun, Sie werden verstehen, dass dieser Brief an mich gerichtet war.»
«Ja, und Sie ließen mich herbestellen, weil dieser Brief mich etwas angeht. Also?»
Frau Keller streckte eine behandschuhte Hand aus, als erwarte sie, dass ihr der Brief ausgehändigt werde.
«Der Brief ist privater Natur. Ich kann ihn Ihnen nicht geben.»
«Ich bin die Mutter.»
«Und ich bin der Lehrer in einer Profession, deren Tiefe und Bedeutung nicht jeder Mensch zu begreifen imstande ist. Ihre Tochter und mich verbindet ein … spirituelles Band, das, Sie verzeihen, Sie einfach nichts angeht.»
«Unerhört!»
Willem war fasziniert von Frau Kellers wütendem Starren, sie sah wirklich aus, als ob sie jeden Moment vor Wut explodieren könnte. Schnell raffte Willem die Zeitung wieder vor sein Gesicht, die er, ohne es zu merken, hatte sinken lassen.
Das war ein Fehler. Das plötzliche Rascheln erregte Frau Kellers Aufmerksamkeit, und sie schoss einen scharfen Blick zu ihm herüber, bevor sie sich wieder dem Professor zuwandte.
«Was also haben Sie mir zu sagen?»
«Wenn Sie sich erst einmal ein wenig fassen wollen, liebe Frau Keller», sagte der Professor jetzt in versöhnlichem Ton. «Ich habe ja nicht nach Ihnen schicken lassen, um Sie zu ärgern, sondern um Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen.»
Der Professor schnäuzte sich erneut auffallend lange und umständlich und steckte dann das Tuch wieder weg.
«Ich habe Grund zu der Annahme, dass Ihre Tochter, meine beste Schülerin, Berlin nicht aus freien Stücken verlassen hat.»
Frau Keller sagte nichts und wartete ab.
«Ich habe des Weiteren auch Grund zu der Annahme, dass es ihr verwehrt wird, Briefe zu schreiben.»
Frau Kellers Blick schweifte zu Willem, verlor sich dann irgendwo am Fußboden, bevor er wieder zum Professor zurückfand.
«Sie schreibt, dass sie den Brief an mich nur unter größten Vorsichtsmaßnahmen auf den Weg schicken konnte. Sie schreibt auch, dass sie zurück nach Berlin möchte.»
«Gut, und weiter.»
«Mehr sagen Sie nicht dazu?»
«Es geht Sie im Grunde nicht das Geringste an, Herr Professor Altheim, aber es ist wahr, dass Henriette Berlin nicht ganz freiwillig verlassen hat. Doch als ihre Mutter habe ich entschieden, dass es das Beste für sie ist.»
«Aber Sie wissen noch nicht alles.»
«Also bitte?»
«Sie schreibt auch, dass ein gewisser fremdländisch erscheinender Herr in diese Sache verwickelt ist, sie kennt ihn nicht, aber sie fürchtet ihn.»
«Gut, und weiter?»
«Ja, werte Frau Keller, beunruhigt Sie denn gar nichts davon?!»
«Ob es mich beunruhigt oder nicht, ist nicht von Belang. Sie entschuldigen mich für einen kurzen Moment.»
«Natürlich.»
Frau Keller stand auf und verschwand im hinteren Teil des Cafés. Willem war hin- und hergerissen. Sollte er ihr folgen? Vielleicht wollte sie gehen? Aber dann wäre sie zur Tür
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