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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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war, die Wohnung zu wechseln. Sie schien mit Hettis Rückkehr nicht zu rechnen. Oder vielleicht wollte sie den Umzug ohne sie bewältigen und sie dann zurückholen? Nein, Frau Keller hatte eindeutig gesagt, ihr Mädchen käme nicht zurück. Warum nicht, was hatte es damit auf sich?
    Von der Küche aus kam man in einen weiteren Flur, links befand sich die vordere Wohnungstür, vor der Charlie bereits zweimal gestanden hatte, gleich daneben ein separater Waschraum. Weitere fünf Türen gingen von dem Flur ab, drei Zimmer nach vorne und zwei nach hinten hinaus. Charlie begann hinten.
    Ihm war klar, dass er sich beeilen musste, dass jeden Moment Willem angelaufen kommen und wie verabredet dreimal gegen die Vordertür pochen konnte, um ihn zu warnen. Oder schlimmer, dass Nachbarn aufmerksam wurden und ihn ertappten.
    Dennoch war er nicht gleich in der Lage, den Raum zu betreten, dessen Tür er zuerst geöffnet hatte. Ein Duft strömte ihm entgegen. Ihr Duft, Rosen, Seife und eine unbestimmbare Komponente, die einen beinahe körperlichen Schmerz auslöste. Er hatte sich so intensiv damit beschäftigt, Hettis Aufenthaltsort zu ermitteln, dass ihm beinahe entgangen war, wie sehr er sie vermisste.
    Hetti hatte die beiden hinteren Zimmer für sich allein belegt, der Raum, den Charlie zuerst betrat, war eine Mischung aus kleinem Salon und Studierzimmer. Ein Pianoforte stand hier, ein Schrank aus dunklem Holz, in dem Bücher standen, über Beethoven, Bach, über Gregorianik, über Komponisten, von denen er noch nie gehört hatte, ein Werk über die Musik der Sphären … Charlie suchte nach den typischen Romanen, die junge Frauen lasen, Erbauliches und Romantisches, doch es war nichts davon zu finden. Stattdessen fand er Noten. Anders als bei Professor Altheim war hier jedoch alles alphabetisch sortiert, Hetti schien ihre kleine Bibliothek wie ein Heiligtum zu behandeln.
    Auf dem Tischchen neben einem großen Lesesessel stand eine Vase mit fast verwelkten altenglischen Rosen. Charlie brach eine der cremeweißen Blüten ab und steckte sie sich ans Revers.
    Durch eine Doppelflügeltür ging Charlie in den zweiten Raum. Hettis Schlafzimmer. Der Duft war hier noch intensiver. Die Vorhänge, halb zugezogen, sperrten den Tag aus, sodass Zwielicht blieb und Charlie sich wie in einer Traumwelt fühlte, in einem Zwischenreich, wo alles möglich sein konnte. Vielleicht musste er nur die Augen schließen und sich vorstellen, dass Hetti hier vor ihm lag, die schwarzen Locken breiteten sich über das Kissen, umflossen ihre Schultern, Schultern in einem reinweißen Nachtkleid, mit Rüschen an Dekolleté und Ärmeln. Charlie schüttelte die Enttäuschung ab, dass das Bild nicht Wirklichkeit geworden war, als er die Augen wieder öffnete. Das Zimmer war nach wie vor leer.
    Mit einem Ruck zog er die Vorhänge auf, ließ Licht herein und sah sich um. Irgendetwas, das ihm einen Hinweis geben konnte? Das Einzige, was ihm auffiel, war, dass von Hettis Sachen bisher nichts eingepackt worden war. Alles war aufgeräumt und an seinem Platz, Kleidung, Bücher, eine Uhr aus Meißner Porzellan stand auf dem Nachttisch, ein kleiner Faun mit Ziegenhufen hielt das Zifferblatt und spähte neugierig darauf. Charlie musste lächeln, diese Uhr passte zu Hetti, sie entsprach ihrer Faszination für das Seltsame und Abwegige, und er stellte sich vor, dass das Staunen des Fauns über die Exaktheit, mit der die Uhr die Zeit in Scheiben schnitt, dasselbe sein musste, das Hetti bei den kleinsten und banalsten Dingen dieser Welt empfand. Über Erdbeeren, Rummelbuden … Charlie zog seine eigene Uhr aus der Tasche und verglich die Zeit. Es war auf beiden Uhren exakt vier Uhr vierzig. Er hatte schon zu lange getrödelt.
    Die anderen Zimmer waren chaotisch, überall lagen und standen Bündel, Koffer und Kisten herum, die Hälfte des Hausrats war bereits verpackt, die andere Hälfte schien wahllos in den Zimmern verteilt. Charlie ließ den Blick schweifen, lief ins nächste Zimmer, fing dann wieder von vorne an.
    Nach welcher Systematik sollte er hier zu suchen beginnen? Wonach suchte er überhaupt? Nach Sesseln, die ihm zuflüsterten, wo Hetti war? Nach Wolldecken, nach Zimmerpflanzen, nach … sein Blick fiel auf einen Korb neben dem Kamin. Auf dem Anfeuerholz lagen zusammengeknüllte Obsttüten und alte Zeitungen. Und, halb darunter verborgen, ein Stapel sorgfältig gefalteter Zettel. Es waren Briefe, ohne Umschläge.
    Alte Briefe würden ihm nichts verraten, er brauchte

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