Kaltes Herz
Raum war winzig, man konnte sich kaum herumdrehen. Unter dem Fenster ging die Hauswand glatt hinab, keine Kerben im Gemäuer, kein Regenrohr lief hier entlang.
Charlie schloss das Fenster und setzte sich auf den Klosettdeckel. Er musste nachdenken, nur hatte er nicht viel Zeit dafür. Nach einer kleinen Weile, die ihm angemessen erschien, stand er auf und wollte an der Kette ziehen, die oben am Spülkasten hing. Charlie steckte versuchsweise die Hand zwischen Spülkasten und Wand. Die Lücke war groß genug.
«Verstopfung, oder was?», schnarrte die Stimme des Polizisten vor der Tür.
«Gleich fertig!», rief Charlie.
Er zog die Briefe aus der Tasche, schob sie vorsichtig zu einem kompakten Stapel zusammen und stieg auf den Toilettendeckel. Dann zog er die Kette und nutzte das Rauschen des Wassers, um die Briefe zwischen Wand und Spülkasten zu stecken, ohne dass man es draußen rascheln hörte. Vielleicht konnte er später wiederkommen, um sie zu holen. Oder Willem.
Charlie schloss auf und ordnete seine Kleidung, bevor er die Hände nach hinten streckte, um sie sich wieder zusammenbinden zu lassen.
Auf der Straße vor dem Haus stand ein Automobil mit einer Fahrerbank vorne und einem schwarzen Kasten hinten. Der Polizist öffnete die hintere Tür.
«Bitte einzusteigen, der Herr», sagte er mit einem Grinsen.
Charlie wusste nicht, ob das ein Scherz sein sollte oder Sarkasmus oder einfach Höflichkeit.
«Ich werde Ihnen einen guten Anwalt besorgen», rief Professor Altheim ihm zu, als der Polizist die Klappe schloss. Durch ein schmales Fenster in der vorderen Wand des Wagens fiel ein wenig Licht in den Innenraum.
«Den besten!»
«Sie und der Junge können vorerst gehen. Aber halten Sie sich zur Verfügung, wir werden sicher noch Fragen an Sie haben.»
Das Gesicht eines zweiten Beamten spähte durch das Fenster zu ihm herein. Charlie versuchte zu lächeln.
«Frau Keller, halten Sie sich bitte ebenfalls zur Verfügung. Für den Moment empfehle ich einen Magenbitter und eine Stunde Ruhe. Sie sehen blass aus.»
«Danke, Herr Wachtmeister. Auf Wiedersehen.»
Charlie spürte, wie der Motor angekurbelt wurde, und dann fuhren sie mit einem kräftigen Ruck los.
[zur Inhaltsübersicht]
15
Z uerst war Henriette erleichtert gewesen, dass die Strafe so milde ausfiel, aber mittlerweile fragte sie sich, wie lange Tante Johanne vorhatte, sie hier zu lassen. Ihre Knie begannen zu schmerzen auf der harten Betbank, und der lebensgroße hölzerne Heiland vor ihr an der Wand, fleckig vom Alter, hatte eine bedrückende Wirkung auf sie. Das Holz war schwarz wie die Haut des Negerkönigs in dem Zelt damals, aber das war ein Leben her, mindestens. Wenn Henriette lange genug in sein Gesicht starrte, Licht und Schatten in sich einließ, und dann an die weiße Wand daneben blickte und schnell blinzelte, dann sah sie – wie durch Magie – sein Abbild auf der Wand. Was dunkel war, erschien nun hell und andersherum. Der verkehrte Heiland, der auf der Wand erschien, litt nicht, er lachte laut, mit weit aufgerissenem Mund und blitzenden Zähnen. Er lachte sie aus.
Henriette sog den Geruch von Weihrauch und Wachskerzen in sich ein. Es war kalt in der Betstube, und sie hätte sich gerne die Beine vertreten, doch sie wagte es nicht aufzustehen. Johanne riss in unregelmäßigen Abständen die Tür auf und überprüfte, ob sie noch immer auf der Bank kniete, den Rosenkranz zwischen den gefalteten Händen, das Haupt gebeugt, die ihr aufgegebenen Ave-Maria aufsagend. Nach einer Weile fiel Henriette in einen schwebenden Zustand, in dem die Zeit verschwand. Ruhe breitete sich in ihr aus, gleichgültig wie lange es noch dauern würde. Wenn sie einfach immer weiter fortfuhr, dann war es, als ob gar keine Zeit verging oder als ob dasselbe Stückchen Zeit immer wieder ablief, in einer endlosen Schleife. Die Ave-Maria passten sich dem Rhythmus an, der unter Henriettes Füßen bebte, die Schritte im Haus, die Geräusche, die aus Küche und Hof hierherfanden, selbst das immer wieder aufbrandende Wüten, das aus dem Westflügel herüberdrang … das alles waren bloß Arabesken über dem Thema, und Henriette lauschte der Musik mit wachsender Freude. Das Hufgetrappel im Hof ließ sie kurz an Ida denken, die vom Amt zurück sein musste, wo sie nach Professor Regenmacher telegraphiert hatte, doch sie blickte nicht einmal aus dem Fenster, um sich zu vergewissern. Eine kurze oder auch lange Zeit später wurde die Tür erneut aufgerissen. Henriette sah
Weitere Kostenlose Bücher