Kaltes Herz
meine Kerze und schlich barfuß über den Flur zu der Tür, hinter der mein Lehrer schlief. Leise drückte ich die Klinke hinab, es war nicht abgeschlossen. Dort lag er, auf dem Rücken, ein Arm hinter dem Kopf, der andere unter der Decke. Mein Herz schlug schneller, als ich zu ihm hinüberschlich, die Kerze auf den Nachttisch stellte und mein Forschungswerk begann.
Zuerst schlug ich vorsichtig die Decke auf. Mein Lehrer rührte sich nicht. Seine Hand lag locker auf seinem Bauch, und unter seinem Nachthemd zeichnete sich ein Schatten ab, eine Form, die ich durch den Stoff hindurch vorsichtig berührte, weich, nicht hart.
Ebenso vorsichtig, wie ich die Decke bewegt hatte, schob ich nun sein Nachthemd hinauf, bis ich die Schlange sehen konnte. Sie schlief, hingebettet in ein Nest aus schwarzem Haar, und ich spürte die Verlockung, die von ihr ausging, ganz wie der Lehrer es gesagt hatte, spürte, wie sie das Feuer entfachte, das Begehren und den Willen zu wissen. Sie sollte erwachen. Doch wie weckte man sie?
Sachte berührte ich ihren Kopf, streichelte sie, rüttelte sie sanft, und mein Lehrer seufzte im Schlaf, als sie sich regte. Ich umfasste ihren weichen, biegsamen Körper, und da wuchs sie, gewann an Kraft, schob einen glänzenden Kopf hervor, ein kleiner Mund blickte mich erstaunt an. Mein Lehrer stöhnte, doch schlief er weiter. Als sein Becken sich mir entgegenreckte und die Schlange in die Höhle meiner Hand zu stoßen begann, wurde auch mein Drang übermächtig, und mein Leib wusste, was zu tun war. Ich ließ die Schlange los, raffte mein Nachthemd und stieg zu meinem Lehrer ins Bett. Als ich den Kopf seiner Schlange am Eingang meiner noch unerforschten Höhle fühlte, war ich einer Ohnmacht nahe. Sie drängte in mich, und ich drängte mich ihr entgegen, um sie aufzunehmen, den Schmerz ignorierend, als sie mich biss, ich glitt auf ihr auf und ab, und meine Hände halfen mit, bis mein Lehrer sich aufbäumte und ein tiefes Stöhnen sich seiner noch immer schlafenden Kehle entrang. Dann bewegte er sich nicht mehr, lag still, sein Atem kam zur Ruhe, und auch ich hielt inne, plötzlich voller Furcht, er könnte doch noch erwachen.
Zitternd stieg ich von ihm herunter, sah das Blut des Schlangenbisses und ihr Gift, das wie geronnene Milch aussah. Ich bedeckte meinen Lehrer und verließ ihn so leise, wie ich gekommen war.
Erst als ich in meinem Zimmer war, wurde mir bange. Was würde nun geschehen, wie würde das Gift in mir wirken? Ich erforschte mein Höhlenreich, konnte nicht aufhören, meine Finger tief in die Höhle zu stecken, die feucht war von Gift und Blut, und ich wusste, dass ich etwas Teuflisches getan hatte. Und ebenso wusste ich, dass ich es wieder tun würde, wieder und wieder. Vielleicht war eben dies die Wirkung des Gifts. Nun, mein liebster Herr Studienrat, dachte es in mir, wenn du deine Schlange nicht herauslassen willst, ich werde sie schon zu locken wissen.
Henriette klappte das Buch zu und hörte auf zu singen. Sie hatte noch nie zuvor von diesem Gift gehört oder gelesen. Enthielt es die Lebenskraft, von der Frau Suhrkopp gesprochen hatte? Doch wie konnte Lebenskraft giftig sein? Sie musste Ida danach fragen, es ergab keinen Sinn. Henriette wollte gerade weiterlesen, da öffnete sich erneut die Tür.
«Bist du fertig?»
«Ja, Tante Johanne.»
«Du singst wirklich schön. Du solltest in der Kirche singen.»
Mit Überraschung sah Henriette etwas, was sie noch nie an ihrer Tante erblickt hatte: ein Lächeln. Beinahe war ihr Gesicht hübsch, als für diesen Moment die Bitterkeit daraus verschwand.
«Danke», sagte Henriette.
«Du hast ganz rote Wangen bekommen. Es scheint dir gutzutun, hier ein wenig mit den wesentlichen Dingen des Lebens allein gelassen zu sein.»
«Danke, ich fühle mich tatsächlich besser.»
«Noch ein Ave-Maria auf der Bank, dann kannst du in die Küche kommen und essen und danach auf die Kammer gehen. Ab morgen früh nimmst du wieder an der Arbeit teil.»
«Ja, Tante Johanne.»
Henriette hielt das Buch fest in den Händen, ging nach vorne und legte es ab, um ihr letztes Ave-Maria zu absolvieren. Sie wartete, dass Tante Johanne ging, doch sie rührte sich nicht.
«Du kannst anfangen», sagte sie und setzte sich auf einen Stuhl.
Henriette senkte den Kopf und begann.
«Ave Maria, gratia plena, gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade, dominus tecum, der Herr ist mit dir» … Was bedeutete das eigentlich, der Herr ist mit dir? «Benedicte tu in mulieribus,
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