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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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nicht auf.
    «Pssst. Hier. Damit es nicht so langweilig ist.»
    Henriette fuhr zusammen, als sie die Stimme dicht an ihrem Ohr vernahm. Ida hielt ihr ein kleines Buch hin. Es sah aus wie das Gesangbuch, das vor Henriette auf der Bank lag, unscheinbar und schwarz. Dennoch erkannte Henriette es auf den ersten Blick. Es war
das
Buch.
    «Ida!»
    «Niemand wird etwas merken.»
    Ida legte das Buch neben das Gesangbuch, huschte zur Tür, öffnete sie einen Spalt und spähte hinaus, um zu sehen, ob die Luft rein war. Dann drehte sie sich noch einmal um.
    «Hetti, er kommt zum Abendessen, heute kriegst du ihn zu sehen. Ich bin so aufgeregt!»
    Ida winkte kurz, dann war sie wieder draußen.
    «Ida!»
    Ida hatte sie nicht gehört oder nicht hören wollen, und Henriette wagte es nicht, lauter zu rufen. Ihr Blick fiel auf das Buch. Von außen waren sie gleich, viereckig und unschuldig und mit einem roten Lesebändchen versehen. Wenn Tante Johanne sie damit erwischte … und dann auch noch hier, in ihrem Heiligtum.
    «Oh, Charlie. Hol mich doch endlich hier weg!»
    Oder … sie konnte versuchen, in die Stadt zu laufen und dort den Zug zu nehmen. Doch wohin konnte sie fahren? Und von welchem Geld?
    Henriette griff nach Idas Buch, um es unter ihrer Kleidung zu verstecken. Sie ließ die Finger durch die Seiten gleiten. Sie waren etwas dicker, griffiger als in einem richtigen Gesangbuch. Und zu jedem Kapitel gab es ein Bild mit einem Titel darunter.
    Der Succubus
… Ein Mann lag wie tot auf dem Bett, mit geschlossenen Augen, und auf seiner nackten Hüfte saß, das Nachtkleid hochgeschürzt, eine Frau mit wildem Haar.
    Und wieder war dort diese Brücke zwischen den beiden, etwas, das sie miteinander verband, das Etwas, das Ida «Schlange» genannt hatte. Sie fand das Wort auf der dem Bild gegenüberliegenden Seite.
    Der Lehrer sprach mit rauer Stimme. «Sie dürfen die Schlange nicht berühren, egal wie verlockend sie Ihnen erscheint. Zuerst scheint sie harmlos, doch dann richtet sie sich auf und zeigt ihren roten Kopf und stößt in Sie hinein, und …
    Henriette hörte Schritte auf dem Flur. Schnell schlug sie das Buch wieder zu und legte es auf die Bank, keinen Moment zu früh, denn die Tür ging auf, und Tante Johanne steckte den Kopf ins Zimmer.
    «Warum betest du nicht?»
    Schnell faltete Henriette die Hände, senkte den Kopf und begann mit einem neuen Ave-Maria. Johanne beobachtete sie.
    «Du kannst doch singen, oder?»
    Henriette blickte auf.
    «Ja, Tante.»
    «Deine Mutter schreibt, du seist etwas Besonderes, ein Talent.»
    «Ich …»
    «Dann lass dir gesagt sein, Mädchen, dass es in diesem Haus keine Besonderheiten gibt. Wenn du singen willst, dann etwas Christliches.»
    «Hat Mutter geschrieben?»
    Tante Johanne nickte.
    «Ida hat Post aus der Stadt mitgebracht. Ich soll dir Grüße bestellen.»
    Henriette fühlte den Stich in der Brust. Warum schrieb Mutter ihr nicht, warum schrieb sie nur ihrer Schwester?
    «Wenn du willst, darfst du singen», sagte Tante Johanne barsch und schloss die Tür.
    Henriette war sich nicht ganz sicher, aber es mochte sein, dass sie soeben von ihrer Tante ein Privileg erhalten hatte, eine Milderung der Strafe. Aber wollte sie überhaupt singen? Oder wollte sie …?
    Henriette strich über die Einbände der beiden Bücher vor ihr. Beide Bücher waren in Leder gefasst, das Gesangbuch war abgegriffen, Idas Buch glänzte, das Leder war feiner. Es war ein teures Buch.
    Ein Succubus … das war ein weiblicher Dämon, der über einen Mann kommt und sich von seiner Lebenskraft ernährt, eine Art Vampyr. Henriette hatte sich bisher über Incubi und Succubi keine Gedanken gemacht, das waren bloß Schauergeschichten, die die alte Frau Suhrkopp erzählt hatte. Sie hatte zwei Etagen höher gewohnt und manchmal auf Henriette aufgepasst, als sie noch kleiner gewesen war, und vor zwei Jahren war sie gestorben. Doch wie tut ein Succubus das, wie gelangt er an diese Lebenskraft? Woraus bestand sie? In dem Moment, wo mit Idas Hilfe dieses Gefühl über Henriette gekommen war und sie durchgerüttelt hatte, da hatte sie sich zugleich stark und unsagbar schwach gefühlt. Was war in diesen Momenten geschehen? Hatte sie Lebenskraft erhalten, oder war sie ihr genommen worden? Wenn es Antworten auf solche Fragen hab, dann waren sie in dem Buch zu finden … Henriette warf einen schnellen Blick zur Tür. Sie hatte die Erlaubnis bekommen zu singen. Also würde sie singen.
    Henriette stand auf, streckte die steifen

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