Kaltes Herz
Knie und setzte sich auf einen der sechs Stühle, die Tante Johanne in zwei Reihen vor ihrer Betbank und dem kleinen Altar für die häuslichen Andachten aufgestellt hatte. Einen siebten Stuhl für Henriette hatte sie bisher noch nicht dazugestellt. Henriette hatte ja auch die meiste Zeit krank im Bett gelegen.
Sie hatte die Tür im Blick, und wenn sie beim Lesen leise sang, dann würde es aussehen, als ob sie ins Gesangbuch schaute. Henriette atmete durch, öffnete das Buch bei dem Kapitel über den Succubus und begann mit einem getragenen Pie Jesu.
Der Anfang des Kapitels schilderte, wie die Erzählerin versucht, den Lehrer durch absichtliche Schlampigkeit und Nachlässigkeiten dazu zu bewegen, dass er sie ebenso hart bestraft wie jene Emily, mit der sie ihn im ersten Kapitel beobachtet hatte. Doch der Plan geht nicht auf.
So begann ich, mit voller Absicht Ungehörigkeiten und Dummheiten zu begehen, um härtere Strafen herauszufordern. Als auch dies zu nichts führte, tat ich es schließlich Emily gleich. Ich erschien mit offenem Haar zum Unterricht. Mein Lehrer sah mich nur kurz an, verzog missbilligend den Mund und widmete sich dann wieder meinen Heften und korrigierte. Es war nicht zu begreifen, warum er mich nicht mit derselben Aufmerksamkeit bedachte wie Emily. Obgleich mein Herz mir zum Halse hinausschlagen wollte und meine Stimme zitterte, rief ich aus: «Oh, bitte, ich muss Sie etwas fragen!»
Zum ersten Mal an diesem Morgen blickte mein Lehrer mich richtig an. «Sie sind ja ganz aufgelöst. Ist etwas geschehen?»
«Bitte, können Sie mich nicht bestrafen?»
«Wofür sollte ich Sie denn bestrafen?»
«Dafür, dass ich Ihnen und Emily zugesehen habe, in London. Ich möchte wissen, was Sie ihr getan haben. Bitte, erklären Sie es mir.»
Ich war vor ihm auf die Knie gefallen, meinen Blick zu ihm erhoben, flehend, die Hände nach den seinen tastend.
Mit einem Ruck war er auf den Füßen, starrte auf mich herab, und ich hoffte, dass ich ihn wütend genug gemacht hatte. Wie von selbst streckte meine Hand sich aus, um ihn dort zu berühren, wo sich auch bei mir der Ort meiner täglichen Freude befand.
Ich fühlte etwas Hartes.
Henriettes Atem stockte, und es fiel ihr schwer, die gleichmäßigen Harmonien des Pie Jesu fortzusingen. Stattdessen stimmte sie ein Kyrie an, das sie zur Stimmübung wegen der himmelhoch kletternden Tonleitern oft bei Professor Altheim gesungen hatte. Ihre Stimme schwankte, doch sie kannte das Material so gut, dass sie über Tonfolgen und Worte nicht nachzudenken brauchte, während sie weiterlas.
Mein Lehrer stöhnte auf, doch dann stieß er mich von sich.
«Setzen Sie sich auf Ihren Platz! Sofort!»
Er zog mich auf die Füße, ungewohnt grob, schob mich auf einen Stuhl, dann setzte auch er sich wieder hin, um mit den Korrekturen fortzufahren.
Ich fühlte einen ganz ungewohnten Zorn in mir aufsteigen.
«Sind Sie denn nicht mein Lehrer?»
Er antwortete nicht.
«Sollten Sie mir nicht meine Fragen beantworten?»
Seine Stimme klang belegt. «Was wollen Sie denn wissen?»
«Was ist es, das Sie mit Emily getan haben?»
«Das ist etwas, was einem jungen Mädchen wie Ihnen zu wissen nicht zusteht.»
«Wenn Sie es mir nicht erklären, werde ich jemand anderem schildern, was ich gesehen habe, und danach fragen.»
«Nein!», sagte er schnell. «Sie müssen mir versprechen, dass Sie das nicht tun.»
«Warum?»
Mein Lehrer sah mich lange an, bevor er sprach. «Als Adam und Eva das Paradies verlassen mussten, versteckten sie die Schlange hinter Adams Feigenblatt und nahmen sie heimlich mit sich. Sie dürfen die Schlange nicht berühren, egal wie verlockend sie Ihnen erscheint. Zuerst scheint sie harmlos, doch dann richtet sie sich auf und zeigt ihren roten Kopf und stößt in Sie hinein, und … verspritzt ihr Gift.» Der Lehrer verstummte.
«War das die Strafe, die Emily erhielt?», fragte ich atemlos.
«Ja.»
Henriette schüttelte irritiert den Kopf. Diese Geschichte stand nicht in der Bibel, sie war sich dessen ziemlich sicher. Sie glaubte, dass der Lehrer entweder log oder selbst nicht verstand, was es mit dieser Versuchung auf sich hatte. Henriette war erleichtert zu lesen, dass auch die Erzählerin mit der Erklärung des Lehrers nicht zufrieden war und daher beschließt, auf eigene Faust mehr über die Schlange herauszufinden.
Ich musste sie genauer in Augenschein nehmen, musste sie noch einmal berühren. Und ich würde mich nicht abweisen lassen. Ich stand auf, nahm
Weitere Kostenlose Bücher