Kaltes Herz
du bist gebenedeit unter den Frauen, et benedictus fructus ventris tui, Iesus, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus» … wenn Gott der Vater von Jesus ist, bedeutete das nicht, er war das Gegenstück zum Succubus aus Idas Buch, ein Incubus, der Maria nächtens heimgesucht und ihr das Kind eingepflanzt hatte? «Sancta Maria, Mater Dei, heilige Maria, Mutter Gottes» … und war Jesus, halb Mensch, halb Gott, dann nicht so etwas wie ein göttlicher Wechselbalg? «Ora pro nobis peccatoribus, bitte für uns Sünder» … vielleicht war das der Grund, warum Maria wie keine andere Frau in der Lage war, für die Sünder zu bitten – weil sie gesündigt hatte, ohne davon zu wissen. «Nunc et in hora mortis nostrae, jetzt und in der Stunde unsere Todes» … schließlich konnte sie nichts für die Sünde, die sie begangen hatte, es war nicht sie gewesen, die ihren Mann hintergangen hatte, es war über sie gekommen, und sie hatte keine Wahl gehabt. «Amen.»
Ob Maria wohl dabei dasselbe empfunden hatte, dasselbe Brennen, dieselbe Seligkeit? Henriettes Schenkel zitterten vor Anspannung, während sie auf der Bank kniete und Gedanken dachte, die Tante Johanne sündig gefunden hätte. Sie wusste, dass ihre Überlegungen verboten, nichtsdestotrotz aber richtig waren, und sie wusste, dass es genau zwei Menschen gab, mit denen sie über diese Dinge würde reden können. Ida und Charlie. Oh nein, Charlie, mein Herz ist nicht kalt. Es ist nur klein und ängstlich. Aber ich verspreche, dass es wachsen wird. Es ist schon gewachsen. Wenn ich nur eine Chance bekomme, das zu beweisen … ich habe den Fehler gemacht, auf Frauen zu hören, die vermutlich nie geliebt haben, vermutlich nie die Freude gefunden haben, die zur Liebe gehört. Ihr betet zu Gott und sagt, dass ihr ihn liebt. Aber ihr habt nicht begriffen, dass Maria letztlich doch eine von uns ist. Eine Heilige, ja. Aber ihre Heiligkeit lag doch im Leib, sie hatte doch ein Kind geboren, und sie hatte es empfangen, von einem übernatürlichen, heiligen Wesen, von dem größten und mächtigsten, das es gab. Und wenn einfache Dämonen dem Menschen schon solches Verzücken bereiteten, wie unermesslich musste es dann erst sein, wenn Gott es einem tat!
«Nun komm», sagte Tante Johanne.
Henriette wartete, dass Tante Johanne sich der Tür zuwandte, bevor sie im Aufstehen nach dem Buch griff und es schnell unter ihr Mieder steckte.
In der Küche warteten warme Mehlklößchensuppe und frisches Brot auf sie. Henriette hatte Hunger, und zugleich lag ein Stein in ihrem Magen. Sie musste sich überlegen, wie sie hier fortkam, zur Not auch ohne Charlie.
Es wurde schon dunkel, als Henriette ein Pferd in den Hof traben hörte. Der Professor war da. Sie wusste, dass sie nicht hinunterdurfte, sie war vom Gemeinschaftsleben ausgeschlossen und hatte bis morgen in der Kammer zu bleiben. Dabei hätte sie zu gerne einen Blick auf den Mann geworfen, für den Ida so schwärmte. Vielleicht sollte sie einfach noch ein wenig weiterlesen. Wenn sie Charlie wiedersah, dann wäre es gut, Bescheid zu wissen, und sie war allein und würde es für die nächsten Stunden auch bleiben. Henriette setzte sich mit Idas Buch auf den einzigen Stuhl im Zimmer und schlug es auf. Nur, es war nicht Idas Buch. Es war das Gesangbuch.
Als Henriette nach unten kam, hatten sich Tante Johanne und die Mädchen bereits in der Diele versammelt. Alle liefen durcheinander, Katharina löste die Schleife ihrer Küchenschürze, die Zwillinge eilten zwischen Küche und Essstube hin und her. Idas Wangen hatten eine rosa Färbung angenommen, und selbst Tante Johanne schien nervös.
«Henriette», sagte sie, als sie sie erblickte. «Sofort wieder nach oben! Und lass dich ja nicht blicken!»
Henriette starrte auf die Tür der Betstube. Sie musste irgendwie dort hinein. Oder zumindest Ida Bescheid geben. Sie ging die Stufen wieder hinauf. Oben blieb sie stehen, hockte sich hinter das Geländer.
Johanne öffnete die Tür.
«Guten Abend, komm herein, Felix», sagte sie.
«Guten Abend, die Damen.»
Eine volltönende Stimme, ein tiefer Bariton vermutlich, wenn er singen würde.
Henriette zischte Idas Namen, doch die hatte nur Augen für den Professor, der noch immer nicht in Henriettes Blickfeld erschienen war. Ein Mantel wurde in den Schrank gehängt, ein Hut abgelegt, Begrüßungen wurden ausgetauscht.
«Ein Notfall, Johanne?», hörte Henriette den Professor sagen.
«Ja, wir sprechen im Büro.»
Die Mädchen
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