Kaltes Herz
vergnügt hätte.»
Der Professor schien diese Vorstellung sehr erheiternd zu finden.
«Du und der kleine, blasse Fahrer mit dem fliehenden Kinn? Hanne, mach dich doch nicht lächerlich.»
«Es ist ja auch natürlich nicht das Geringste geschehen!»
Henriette hörte den Löffel in der Kaffeetasse.
«Aber etwas ist geschehen», sagte der Professor dann, und es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
«Was auch immer es ist, Felix, er wütet mit mir, und ich wage mich nicht zu ihm hinein. Ich war seit heute früh nicht dort, er hat keine Injektion bekommen, gegessen und getrunken kann er auch kaum haben – ohne meine Hilfe. Ich mache mir Sorgen um ihn. Sicher leidet er Qualen.»
Wieder hörte Henriette eine Weile lang nichts, und dann, völlig unvermittelt, ein Schluchzen.
«Ich ertrage es nicht mehr, ich ertrage
ihn
nicht. Ich habe ihm fünf Kinder geboren, ich führe ihm die Geschäfte, ich arbeite, ich pflege ihn, und mein einziger Trost liegt in Gott. Doch manchmal genügt das nicht, verstehst du? Manchmal wünschte ich, es wäre endlich abgegolten.»
Schritte, und dann sanft:
«Hanne,
was
soll denn abgegolten sein?»
Langes Schweigen, dann wieder der Professor.
«Wir sind Freunde, seit zwanzig Jahren, wir waren sogar einmal mehr als das, oder hast du das vergessen? Ich kenne deine Seele, Hanne, und ich ahne, nein, ich weiß, dass es mehr ist als dein alter Heinrich da unten im Keller, was dich bedrückt. Johanne, ich weiß von dem Mädchen in Berlin. Was ist mit ihr? Vertrau dich mir an, öffne dein Herz.»
«Ich kann nicht, ich kann nicht!»
In Henriette zog sich etwas zusammen.
«Wenn ich in den Westflügel gehen und helfen soll, meinst du nicht, es wäre wichtig, dass ich alles weiß, was es zu wissen gibt?»
Das Schluchzen hörte schlagartig auf, Tante Johanne putzte sich die Nase, dann sagte sie mit fester Stimme:
«Es gibt nichts, was du wissen müsstest, Felix. Nichts.»
«Dann gib mir jetzt bitte die Schlüssel. Ich möchte Gott um Rat fragen. Danach suche ich Heinrich auf.»
Henriette hörte das Rasseln von Tante Johannes Schlüsselbund.
«Felix, es ist manchmal besser, nicht alles zu wissen.»
Der Professor antwortete nicht und ging.
Henriette nahm das Ohr vom Glas. Und wenn er in der Betstube beten wollte? Was, wenn er das Buch entdeckte? Sie musste versuchen, es zu holen. Bevor er es entdeckte. Das Gesangbuch an sich gedrückt, eilte Henriette den Flur entlang, schlich die Treppe hinunter und blickte vorsichtig um die Ecke. Die Tür zur Betstube war keine drei Meter entfernt, und die Türen zur Küche und zur Essstube waren geschlossen. Gerade als Henriette sich entschließen wollte, die entscheidenden Schritte zu tun, trat der Professor aus der Betstube. Wie hatte er so schnell sein können? Ihr Schrecken wurde noch größer, als sie sah, wie er sich umwandte. Sein Gesicht war in der Düsternis des Flurs nicht zu erkennen, doch sie kannte seine Körperhaltung, seine Statur, seinen Gang. Es war der Mann mit dem Opernglas! Wie eine Erscheinung stand er da und steckte den Schlüssel ins Schloss der Tür zum Westflügel. Er sah Henriette nicht, doch sie sah ihn. Der Mann mit dem Opernglas war Professor Regenmacher.
Sie hatte ihn also doch gesehen, neulich nachts. Er war nicht bloß eine Fieberphantasie gewesen. Oder war er jetzt wieder nur eine Phantasie, ein Produkt ihrer gesteigerten Vorstellungskraft in einer Situation der Angst und Anspannung? Henriette hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sobald der Mann im Westflügel verschwunden war, huschte sie über den Flur, betrat die Betstube, in der außer Weihrauch und Kerzenwachs nun auch ein schwacher, aber deutlich männlicher Geruch hing. Sie legte das Gesangbuch auf seinen Platz auf der Bank und wollte es gegen Idas Buch austauschen. Doch Idas Buch war nicht mehr dort, wo sie es liegengelassen hatte. Henriettes Herz begann heftiger in ihrer Brust zu hämmern. Sicher war es bloß heruntergefallen! Sie schaute hinter und unter der Bank, doch es war zu dunkel, und Licht zu machen, wagte sie nicht, aus Angst, entdeckt zu werden. Sie schaute auch bei den Stühlen, wo sie gesessen hatte, auf dem kleinen Altar. Das Zimmer war ansonsten schlicht und leer, es gab keinen Platz, wo es noch hätte liegen können. Es war fort. Henriette war übel vor Angst, doch es blieb ihr nichts übrig, als wieder hinaufzugehen.
Als sie auf den Flur trat, standen plötzlich die Zwillinge hinter ihr. Wie identische Gespenster starrten sie
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