Kaltes Herz
die Düfte von gebratenen Nierchen, Ale und Zigarren, die seinen glückstrunkenen Kopf umschwirrten. Er würde aus seiner feuchten Kammer ausziehen, er würde in einer kleinen, möblierten Wohnung sitzen, die Füße auf einer gepolsterten Fußbank, die Hände abwechselnd auf den Tasten eines Klaviers und mit dem Stift auf den Notenblättern, jemand würde ihm Tee bringen …
«Mister Jackson. Ein Herr wünscht Sie zu sprechen.»
Ein Kellner war neben ihn getreten, seine Miene war ausdruckslos. «Er wartet in der Lobby», sagte er schlicht und verließ ihren Tisch wieder.
«Ich bin gleich zurück», sagte Charlie.
Charlie sah zunächst nur den Rücken des Mannes, der über die Lehne eines Sessels hinwegragte. Ein fleischiger Rücken, über den sich ein abgeschabtes Jackett spannte, ein lockiger, grauer Schopf, und als er näher kam, der schwergängige Atem.
«Vater», sagte Charlie.
Charlies Vater drehte sich so weit zu ihm herum, wie sein verfetteter Zustand es ihm erlaubte. Seine blauen Augen verschwanden in aufgeschwemmtem Fleisch, die Haut war weiß und rotscheckig, und selbst auf einen Meter Entfernung stank er nach Gin und kaltem Rauch.
«Setz dich, Junge.»
Charlie blieb stehen.
«Was gibt es, Vater?»
Charlies Vater zuckte die Achseln.
«Ich wollte meinem Sohn zu seinem Erfolg gratulieren. Wer hätte das gedacht!»
«Ja, nicht wahr, wer hätte das gedacht?»
Charlie gab sich keine Mühe, den sarkastischen Tonfall zu verbergen.
Als ein Kellner vorbeieilte, hob Charlies Vater kurz die Hand.
«Einen doppelten Scotch.»
«Das ist nicht nötig», sagte Charlie. «Der Herr geht gleich wieder.»
«Wie Sie wünschen.»
«Na, nicht so schnell. Bringen Sie den Scotch.»
«Sehr wohl.»
«Ich werde ihn nicht für dich bezahlen, Vater.»
«Wer sagt, dass du zahlen sollst? Ich kann immer noch für mich selbst zahlen!»
Charlies Vater gab sich empört, doch Charlie kannte dieses Spiel bereits und wusste, was als Nächstes kommen würde. Es war das, was immer kam, wenn es ihm gelang, ein wenig Geld zu verdienen. Als hätte sein Vater einen besonderen Sinn dafür ausgebildet zu wissen, wann Charlie pleite war und wann nicht.
«Wobei, wenn ich ehrlich sein soll, es ist zurzeit ein wenig schwierig. Du kennst das ja.»
«Ja, ich kenne das», sagte Charlie.
«Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit dem Direktor, und er hat mein Engagement nicht verlängert.»
«Hast du wieder getrunken und dann was angestellt?»
Der Kellner brachte den Scotch, und Charlies Vater trank ihn aus.
«Ich?!»
Charlie verschränkte die Arme.
«Was willst du?»
«Ich wollte dir gratulieren. Und dich besuchen. Ich möchte Zeit mit meinem Sohn verbringen. Wir hatten viel zu wenig Zeit, wir zwei, nicht?»
«Was nicht an mir gelegen hat, wenn du dich erinnern willst.»
«Jaja, schon gut. Also. Wo wohnst du denn derzeit?»
«Immer noch Kensington.»
«Ach, noch nichts Vornehmeres?»
«Ich bin noch nicht dazu gekommen.»
Charlie war sich sicher, dass sein Vater sich einfach nicht erinnern konnte, wo er wohnte, und darum gefragt hatte. Seine Stimme war zu einem Murmeln zusammengeschrumpft, es sah aus, als ob er gleich einschlafen würde. Charlie empfand Widerwillen, aber wenn er seinen Vater hier herausschaffen wollte, musste er mithelfen. Er fasste ihn mit beiden Händen um den verfetteten Oberarm und zog daran.
«Ich glaube, du gehst jetzt besser, du musst ins Bett.»
«Was? Ja, du hast recht.»
Mühsam stemmte Charlies Vater sich hoch. Das Wasser in seinem Gewebe machte ihn zu einem Koloss von wenigstens zweihundert Kilo, und es fiel ihm schwer, sich gerade zu halten.
«Ich lasse einen Wagen kommen.»
«Das ist anständig von dir, Junge», murmelte Charlies Vater.
Charlie ließ ihn stehen, bestellte an der Rezeption einen Wagen und ging zu seiner Feier zurück.
Nur dass ihm nun nicht mehr nach Feiern zumute war.
Er sah seinen Vater nicht oft, er vermied es. Doch auch wenn die Engagements seines Vaters seltener wurden, so liefen sie sich doch in Künstlerkreisen und in den Varietéhäusern immer noch drei- oder viermal im Jahr über den Weg. Und jedes Mal sah Charlies Vater schlimmer aus.
Charlie versuchte, an etwas anderes zu denken. Es war nicht seine Schuld, und er konnte auch nichts daran ändern. Sein Vater hatte ihn im Stich gelassen, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Er hatte ihn geschlagen, wenn er besoffen war. Er hatte ihm sein mühsam auf der Straße verdientes Geld weggenommen, um es
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