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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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London bereits erwartete, vielleicht mit einer Kugel aus einer Adams? Einer Kugel aus einem Lauf, den man an seine Schläfe drücken würde, kalt und hart, die in seinen Kopf eindringen, vielleicht an der anderen Seite wieder austreten würde … Ob sie bei Hinrichtungen darauf achteten, die Umgebung nicht zu beschmutzen? Nein, sicher wurden sie in Räumen vorgenommen, die man hinterher leicht mit Wasser ausspritzen konnte … und dann würde er Hetti nie wiedersehen. Ruckartig setzte sich Charlie auf. Er wollte nicht daran denken! Er wollte an Lösungen denken.
    Charlie legte sich wieder hin, schloss die Augen. Er würde versuchen zu schlafen, und morgen würde man weitersehen, hatte der Wärter ihm gesagt. Und vielleicht suchte man ihn nicht einmal. Vielleicht warf man ihm gar nichts vor. Es war nicht seine Schuld gewesen.
    Charlie wälzte sich von einer Seite auf die andere, unfähig, innerlich zur Ruhe zu kommen. Bisher hatte er immer ausweichen können. Nur diesmal nicht. Er saß fest, was auch immer geschah. Der Gedanke zwang Charlie aus dem Bett. Er lief auf und ab, doch auch das nützte nichts. Er konnte der Erinnerung nicht länger davonlaufen.
     
    London, Dezember 1899 , Tänzer, großes Orchester,
Alhambra
. Charlie saß mit schweißnassen Händen im Olymp und starrte ins Publikum hinab, sah und hörte jeden kleinsten Patzer, zuckte bei jedem Husten zusammen, wand sich zwei Stunden lang, bis die Tänzer sich verbeugten, die Musik verklang. Bis Stille einkehrte, die Charlie unendlich vorkam. Und dann.
    Applaus! Bravorufe! Die Leute standen von ihren Sitzen auf, klatschten lauter. Und noch lauter, als die Tänzer sich verbeugten, noch lauter, als der Dirigent die Musiker anwies, sich zu erheben und sich ebenfalls zu verbeugen. Das waren nicht die Claqueure, die Postant bei Uraufführungen immer vorsorglich bestellte. Er dachte, das würde niemand merken, aber es war ein offenes Geheimnis, dass ein Teil des guten Rufs des
Alhambra
daher rührte, dass es Einheizer gab. Charlies Anspannung löste sich mit einem Schaudern, er fühlte sich wie ein Hund, der sich einmal kräftig schütteln musste, um das Wasser und die Flöhe in seinem Fell loszuwerden. Das hier war echter Applaus.
    Charlie wartete auf den Freudentaumel, und da kam er auch schon, brandete in ihm hoch wie der Applaus, und dann deuteten die Musiker auf ihn, und die Streicher begannen mit den Bogen auf ihre Instrumente zu klopfen, Köpfe wandten sich ihm zu. Das war der Moment, in dem man als Komponist bei der Premiere aufstehen musste, er hatte es bei anderen so oft gesehen, und dieses Mal war er dran! Charlie stand auf, eine neue Applauswelle brandete heran, mit einer glitzernden Schaumkrone aus Jubel, und Charlie verbeugte sich, einmal, noch einmal und noch einmal. So fühlte sich das also an. Dafür ertrug man also die Nervosität, die Angst vor einem Reinfall, die Proben, die Zweifel. Charlie stellte fest, dass es sich lohnte. Er wollte mehr davon.
    Nachdem das Publikum sich zerstreut hatte, gingen sie gemeinsam essen, Monsieur Debussy, Mr. Postant, Charlie, die Tänzer, das Orchester. Die Musiker waren zum Teil, wie auch er, Leute von der Straße, mit denen er früher schon zusammen musiziert hatte, auf billigen Geigen und löcherigen Akkordeons. Für sie hatte er das Konzert geschrieben, eine Romanze für die Hoffnungslosen. Alle Musiker waren herausgeputzt, aber man sah genau, welche an Premierenfeiern gewöhnt waren und welche Charlie mitgebracht hatte. Sie wirkten merkwürdig fehl am Platze mit ihren Fräcken, Kragen und Bindern, und sie hatten sich zusammengeschart und hielten sich fern von den anderen, und die besseren Herren und Damen betrachteten ihre von Armut gezeichneten Gesichter mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Dennoch war Charlie froh, dass er auf seine kleine Truppe bestanden hatte, es war genau die richtige Entscheidung gewesen. Für diese Musiker war er nicht irgendein unwichtiger Neuer, sondern er war ihre große Chance.
    Nachdem Mr. Postant seine Tischrede gehalten hatte, erhob Charlie sein Glas zu einem Toast.
    «Freunde», sagte er, «ich mache es kurz. Ich danke euch, dass ihr an mich geglaubt und jede Faser eures Herzens in meine Musik gelegt habt. Niemand sonst hätte heute so tanzen und so spielen können wie ihr.»
    Charlie nippte nur an seinem Wein, er trank nicht gerne, und setzte sich unter «Hört! Hört!»-Rufen wieder hin, um zu essen. Er hatte einen Bärenhunger und inhalierte voller Vorfreude

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