Kaltes Herz
im Flur.»
Ida wollte nachdenken, aber ihr Kopf war noch immer zu schwer vom Wein.
«Wieso Flur? Du hattest doch Stubenarrest.»
«Ich wollte das Buch holen, aber … Ich fürchte, ich muss dir noch etwas Wichtiges sagen, Ida.»
Ida schlug sich vor die Stirn. «Das Buch! Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, es zu holen.»
«Ida.»
«Wir müssen es sofort holen. Wenn abgeschlossen ist, kann ich vielleicht durchs Fenster rein. Genau!»
Ida sprang auf, um nach unten zu eilen.
«Ida!»
«Was denn?»
«Es ist weg.»
Ida hatte schon die Zimmertür aufgerissen. Jetzt hielt sie inne, blickte Hetti über die Schulter an.
«Wie, weg?"
«Ich war unten, um die Bücher auszutauschen, das Gesangbuch gegen das andere. Dabei habe ich den Mann mit … Professor Regenmacher gesehen. Er kam gerade heraus. Er hat die Tür offen gelassen. Jemand muss es genommen haben.»
Ida schloss die Tür und setzte sich wieder, das Schwimmen in ihrem Kopf wurde nicht besser, sondern immer schlimmer.
«Mutter war es bestimmt nicht, sonst hätte es schon eine Inquisition gegeben», murmelte sie. Beim nächsten Gedanken setzte ihr Herz einen Schlag aus. «Und wenn
er
es hat?»
Hetti sah sie aus großen Augen an.
Dann schüttelte Ida den Kopf. «Nein. Dann hätte es auch eine Inquisition gegeben. Bestimmt eines von den Mädchen. Ich hoffe nur, sie behalten es für sich! Oh, Hetti!»
Hetti hatte Tränen in den Augen, als sie aus dem Bett kam, um Ida zu umarmen.
«Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich könnte es wiedergutmachen.»
«Da fällt mir so schnell nichts ein», sagte Ida finster.
Dann bemühte sie sich, nicht mehr daran, sondern an das andere zu denken.
«Und mein Professor soll wirklich dein Mann mit dem Opernglas sein? Das ist doch zu merkwürdig.»
«Absolut.»
«Dann müssen wir herausfinden, warum er dich verfolgt hat und ob es Zufall ist, dass du ihn hier wiedersiehst, oder ob eine Absicht dahintersteckt. Ich verwette meine Granatkette, dass es eine Absicht gibt. Eine Verschwörung.»
Hetti nickte. «Ich glaube auch, dass mehr dahintersteckt. Ich habe gehört, wie deine Mutter und er über ein Mädchen in Berlin gesprochen haben. Und …» Hetti setzte sich wieder auf ihre Bettkante, als wäre plötzlich jegliche Kraft aus ihr gewichen, «… ich habe deinen Vater gesehen.»
«Wie, du hast meinen Vater gesehen? Aber den habe ich seit dem Unfall nicht mehr gesehen. Wie kannst du ihn da gesehen haben? Du warst doch nicht etwa im Westflügel?»
«Nein. Er war oben an einem der Fenster vom Westflügel.»
Hetti blickte ins Leere und schien vergessen zu haben, was sie sagen wollte.
«Und weiter?»
Hetti schauderte. «Ida, glaub mir, du willst ihn gar nicht sehen. Er sieht grausam aus, und er hat mich angeblickt … Auf eine Art … Er hat Johanne in mir gesehen, ich bin mir ganz sicher. Er hat gedacht, ich sei sie. Was kann denn das nur bedeuten? Ist er wahnsinnig?»
Ida schüttelte langsam den Kopf. Es fühlte sich an, als ob ihr Hirn in einer Schale hin und her schwappte wie eine Portion Rote Grütze mit zu wenig Sago drin, das Ganze war viel zu flüssig.
Sosehr sie sich auch wünschte, dass der Professor ihr und nicht Hetti seine Aufmerksamkeit schenke, so spannend war es auch. Hetti war Teil eines Rätsels. Vielleicht sogar eines romantischen Rätsels, aber das war auf den ersten Blick schwierig zu erkennen.
«Hast du vielleicht ein Glück, Hetti», sagte Ida matt und gähnte.
Hetti lachte auf. «Ich weiß nicht, ob ich das ein Glück nennen soll. Ich finde es unheimlich. Und Ida, sei mir nicht böse, ich will nach Hause, ich will zurück nach Berlin. Kannst du mir nicht helfen?»
«Helfen.» Ida hielt inne. «Ja, wenn du unbedingt willst.»
Hetti nickte heftig.
«Na gut. Aber erst mal muss ich jetzt schlafen. Mein Kopf …» Ida presste die Hände gegen die Schläfen, die in den letzten Minuten heftig zu pochen begonnen hatten. Sie konnte nicht mehr denken. «Morgen sehen wir weiter.»
«Ja, morgen. Danke, Ida», sagte Hetti und drückte sie noch einmal fest an sich. Ida zog sich aus, streifte ihr Nachthemd über und schlief sofort ein.
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16
D er Wagen fuhr die Invalidenstraße entlang und hinter dem Lehrter Bahnhof vorbei. Wenn Charlie den Mann mit dem Opernglas hier erwischt hätte, dann wäre alles gut geworden. Dann kam die Lehrter Straße, und sie hielten vor einem großen weiß getünchten Gebäude.
Charlie wartete, dass die hintere Tür geöffnet wurde, und musste in
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