Kaltes Herz
zu versaufen. Charlie schuldete seinem Vater nichts. Gar nichts.
Dennoch war ihm der Appetit vergangen. Der Abend seines ersten richtigen Erfolges, ein erster Schritt hinaus aus einem Leben mit der täglichen Frage, was es morgen zu Essen geben würde, das erste Mal genug Geld in der Tasche, um mehrere Monate gut über die Runden zu kommen und den nächsten Erfolg vorzubereiten. Das erste Mal, dass die Zeitung über ihn berichten würde, das erste Mal ein wenig blauer Himmel und klare Morgenluft. Charlie fühlte sich seltsam hohl, seltsam wehmütig. Es war wie eine Art Heimweh, vermischt mit dem Gefühl, einen Verrat begangen zu haben. Aber woran? Er wusste es nicht, konnte es nicht benennen. Aber es war in jedem Fall ein Gefühl, das ihn nach Hause trieb, unter die Bettdecke. Er wollte jetzt allein sein, wollte begreifen, was geschehen war. Oder vielleicht einfach nur schlafen. Sonst nichts.
Wahrscheinlich steckten ihm bloß die Anstrengungen der letzten Monate in den Knochen – das Komponieren, die Proben, seine Gruppe von äußerlich heruntergekommenen, aber hochtalentierten Straßenmusikern bei Mr. Postant durchsetzen. Natürlich auch die Demütigungen, mit denen er seit Jahren gelebt hatte. Und trotzdem immer zu wissen, ohne jeden Zweifel, dass er jemand war, dass er etwas konnte … und jetzt fiel das mit einem einzigen Abend alles von ihm ab: die Anspannung, die Unsicherheit, die Zweifel. Übrig blieb einfach nur Charlie Jackson, der sich irgendwie nackter und dem Leben ausgelieferter fühlte als je zuvor. Vielleicht war es einfach die Angst, dass der Erfolg nicht anhielt, dass er zerrann, bevor er überhaupt richtig greifbar wurde. Charlie stand auf.
«Freunde, feiert ohne mich weiter. Ich kann nicht mehr. Ich muss jetzt schlafen.»
Die Musiker links und rechts von ihm klopften ihm anerkennend auf die Schulter, hoben noch einmal die Gläser auf Charlie. Dann ließen sie ihn gehen, den Mann, der an sie geglaubt und Licht in ihre Leben gebracht hatte.
Charlie ging zu Fuß nach Hause, eine gute Stunde lang. Er lief schon immer gerne die Straßen auf und ab und kreuz und quer, und er kannte London so gut wie kein anderer Gassenjunge, kannte die Schleichwege, die Lagerhallen, in denen man unbemerkt schlafen konnte, die Arbeiter, die einem ein Stück Brot abgaben und die, die einen mit einem Fußtritt verjagen würden. Er kannte die Kähne, auf denen man die Themse ein Stück mit hinauf- oder hinabfahren konnte, er kannte die Armenhäuser, die verlausten Kinderscharen in den Armenschulen, die Suppenküchen, die Pfandleihhäuser. Er war sein Leben lang zu Fuß gegangen, hatte alles genau angesehen, beobachtet, seine Schlüsse gezogen. Und irgendwann hatte er angefangen, diesen Gegenden davonzulaufen, war in bessere Gegenden vorgedrungen, wo die Leute ein paar Pennys fürs Vaudeville übrig hatten, ins Konzert oder Theater gingen. Und dann hatte er noch größere Kreise gezogen, hatte die besseren Häuser und die feinen Damen und Herren, die darin wohnten, erkundet. Irgendwann, gar nicht mehr so weit in der Zukunft, würde er nicht mehr in sein rußiges, stinkendes Kensington zurückkehren, würde er nicht mehr von Zwiebeln, Haferflocken, dünnem Tee und Rinderfett leben. Und heute war der Tag, mit dem es begann. Der erste Schritt war getan.
Charlie drückte die Haustür auf und kletterte die schmalen Stiegen hinauf, erster, zweiter, dritter Stock, vorbei an den Ascheneimern und ungeleerten Nachttöpfen der Nachbarn, und dann das letzte Stück in die rechte Mansarde unter der zugigen Dachschräge, in der es im Sommer unerträglich heiß und im Winter trotz des Kanonenofens bitterkalt wurde. Zurück in sein eisernes Bett mit den zwei Decken und dem neuen Daunenkissen, duftig und weich.
Charlie wollte die Tür aufschließen, doch sie war gar nicht verschlossen. Hatte er das in der Aufregung vorhin vielleicht vergessen? Er verzichtete darauf, die Lampe anzustecken, die achtzig oder neunzig Quadratfuß, die seine Wohnung maß, kannte er blind. Er streifte die Schuhe von den Füßen, tappte hinüber zu seinem winzigen Klappfenster, um die abgestandene Luft hinauszulassen, dann setzte er sich auf die Kante seines Bettes, tastete nach dem Wasserkrug auf dem Hocker daneben.
Der Krug war umgestoßen, das Wasser in sein Bett gelaufen, jetzt fühlte Charlie auch die Nässe in der Matratze, die sein Hosenbein durchdrang.
«Ach, verdammt!»
Er stand auf, ging zum Tisch hinüber, tastete nach Streichhölzern und
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