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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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Lampe, um nun doch Licht zu machen.
    Der Krug lag auf dem Hocker, und daneben lag ein Arm, ein fetter, formloser Arm. Charlies Vater.
    «Ach, verdammt!», wiederholte Charlie.
    Er hatte nicht gemeint, dass sein Vater zu
ihm
nach Hause fahren sollte. Wahrscheinlich hatte die Wirtin ihm die Tür aufgemacht.
    Charlies Vater lag auf dem Rücken, angezogen auf dem Überbett, mit Schuhen an den Füßen, nicht einmal den speckigen Mantel hatte er abgestreift. Er lag da und starrte an die Decke.
    In seiner Hand ein Revolver, Marke Adams, silberfarben, schwarzer Griff, schlank, beinahe elegant.
    Charlie kannte die Waffe, sein Vater sagte, dass er sie seit 1872 besaß. Damals hatte er das neue Modell aus einer Auslage mitgehen lassen, eine Heldentat, auf die er noch immer stolz war. Jedes Mal, wenn er Charlie als Kind die Waffe gezeigt hatte, war die Geschichte dazu ein wenig abenteuerlicher geworden, und jedes Mal hatte Mutter damit gedroht, sie in die Themse zu werfen, sollte sie sie noch einmal sehen. Die Mündung der Waffe steckte im Mund von Charlies Vater.
    Doch seine Brust hob und senkte sich. Offenbar war er eingeschlafen, während er mit dem Gedanken spielte, sich das Hirn wegzublasen. In Charlies Bett.
    Charlie ging hinüber und nahm seinem Vater die Ginflasche aus der Hand. Sie war offen, und der Inhalt war zum Teil in Charlies Bett und in sein neues Kopfkissen gelaufen.
    «Ach, Vater!»
    Charlie war wütend. Dennoch fasste er sanft den Lauf der Adams, um sie seinem Vater aus dem Mund zu ziehen. Er wollte ihn gegen die Decke richten und den Finger seines Vaters aus dem Abzug ziehen.
    Sein Vater öffnete die Augen, der Blick unerwartet klar, und er öffnete die Lippen zu etwas, was wie ein unanständiges Grinsen aussah; gebleckte Zähne, die den Lauf der Waffe festhielten. Er packte zu, unvermutet schnell umklammerte er Charlies Hand, und bevor er es verhindern konnte, zog sein Vater den Abzug.
    Charlie hatte noch immer den Lauf der Waffe in der Hand. Blut und graue Masse klebten rund um das Loch in der Schräge über dem Bett, rannen heiß über sein eigenes Gesicht, tropften auf sein Hemd, seine Arme. Sein neues Kopfkissen.
    Charlie ließ den Lauf der Adams los und rannte.

[zur Inhaltsübersicht]
    17
    H enriette hatte einen eigentümlich metallischen Geschmack im Mund, sie hatte sich auf die Lippe gebissen, Blut lief in ihren Mund, und sie spürte, wie die Lippe anschwoll und pochte. Der Schrecken packte sie in der Mitte der Brust, nahm ihr den Atem und vernebelte ihr den Kopf. Sie konnte nichts sehen, aber sie spürte den Blick als massive Präsenz, die sie körperlich berührte, und sie konnte seine Identität spüren, obwohl sie den Urheber nicht sah. Sie wusste, zu wem dieser Blick gehörte, sie wusste, dass er es war, und sie wagte, bis auf den Biss in die eigene Lippe, nicht die kleinste Bewegung. Wenn sie sich still verhielt und zugleich aufs äußerste wachsam war, dann konnte sie einen Angriff vielleicht vorausahnen, konnte sich wappnen. Dennoch, der Schrei braute sich in ihr zusammen, sie spürte, wie er hinauswollte, wie er in ihrer Kehle zu zittern begann wie ein Tier, das sich zum Angriff bereit machte. Schon öffnete sie den Mund, um Luft in die Lungen zu lassen, mehr Luft, als sie zu fassen vermochten, spürte, wie ihr Zwerchfell Druck aufbaute, und dann, am Punkt der höchsten Spannung, an dem es nur noch darum ging, die ausströmende Luft mit dem schrillsten Klang zu versehen, zu dem ihre Stimmbänder fähig waren, presste sich eine große, heiße Hand auf ihren Mund, schnell und unerbittlich. Sie roch Haut und Tabak und noch etwas, das sie nicht definieren konnte. Sie begann um sich zu treten, versuchte die Hand zu beißen, den Arm von sich zu schieben, den schweren Körper auf ihr, der sie niederhielt.
    «Still! Still!», sagte die Baritonstimme dicht an ihrem Ohr, sie spürte den Atem. «Ich will Ihnen nichts tun. Ich werde Ihnen nichts tun. Ich will nur nicht, dass Ida aufwacht. Hören Sie! Ich tue Ihnen nichts. Still jetzt. Still … Shhhhhh.»
    Der Mann mit dem Opernglas machte Laute wie eine Mutter, die ihr Kind beruhigt, und schließlich kam Henriettes Körper zur Ruhe.
    «Bitte stehen Sie auf und folgen Sie mir. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, und ich will mit Ihnen sprechen.»
    Er hatte noch immer die Hand auf ihren Mund gepresst, hielt sie immer noch mit dem Gewicht seines Körpers nieder.
    «Versprechen Sie mir, nicht zu schreien?»
    Henriette zögerte kurz, doch dann nickte sie.

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