Kaltes Herz
Welche Wahl hatte sie schon.
Er stand auf und wartete. Ida regte sich unruhig in ihrem Bett, doch der Mann achtete gar nicht auf sie.
Henriette schlug die Decke zurück. Nur in ihrem Nachthemd, fühlte sie sich seinen Blicken noch mehr ausgeliefert.
«Bitte, warten Sie draußen. Ich verspreche, dass ich komme.»
Der Mann deutete eine Verbeugung an und verließ die Kammer, und Henriette beeilte sich, Strümpfe, Schuhe, Morgenrock und Schultertuch anzulegen.
«Ich danke Ihnen», sagte der Mann, als sie vor die Tür auf den schwach erleuchteten Flur trat.
«Sie sind Professor Regenmacher?»
Aus der Nähe sah er weniger beunruhigend aus, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Er war einfach ein Mann Ende dreißig, mit halbmondförmigen Augen. Ida hatte recht, er war attraktiv. Und sie selbst musste sich eingestehen, dass er nichts Unheimliches an sich hatte. Wenn man von seinem Habitus absah, junge Mädchen zu beschatten und nachts in ihre Zimmer einzudringen.
«Korrekt. Bitte verzeihen Sie, dass ich mich Ihnen nicht eher vorgestellt habe. Ich musste erst ganz sichergehen, dass ich mich in Ihnen nicht irre.»
«Warum verfolgen Sie mich? Was wollen Sie von mir?»
«Vorerst will ich Sie bloß jemandem vorstellen.»
Regenmacher ging voraus, und Henriette folgte ihm. Es ging die Treppe hinab und dann direkt auf die Tür zum Westflügel zu.
Henriette fürchtete sich davor, den verbotenen Trakt des Hauses zu betreten, und noch mehr fürchtete sie die Begegnung mit ihrem Onkel. Als Regenmacher einen Schlüssel aus der Hosentasche zog und aufschloss, wich sie zurück, und Regenmacher bemerkte ihr Zögern.
«Sie müssen sich nicht fürchten. Er ist nicht gefährlich. Ich bürge dafür.»
Beinahe hätte Henriette gelacht. «Wenn jemand wie Sie für meine Sicherheit bürgt, dann bin ich selbstverständlich in Sicherheit.»
Regenmacher ließ ein kleines, ironisches Lächeln sehen. «Ich verstehe Ihren Standpunkt. Hier entlang, bitte.»
Hinter der Tür folgte ein unbeleuchtetes Stück Gang, das diese kalte Schwärze atmete, die sie an ihrem ersten Fiebertag angezogen hatte wie ein offenes Grab eine Todgeweihte.
«Warum machen Sie kein Licht?»
«Keine Sorge, wir kommen gleich in lichtere Gefilde. Heinrich ist zwar sehr geschickt darin, komplexe Maschinen zu erfinden. Aber eine neue Glühbirne zu installieren, wenn die alte ausgebrannt ist, gehört nicht zu seinen Stärken. Vorsicht, hier kommen sechs Stufen abwärts.»
Henriette konnte sich gerade noch an der Wand abstützen, als ihr Fuß ins Leere trat.
Regenmacher schob einen Vorhang beiseite und drehte einen Lichtschalter. Die plötzliche Helligkeit blendete Henriette, und es dauerte einen Moment, bis sie erkannte, dass sie sich in einem Kellergang befand. Rechts ging ein weiterer Gang ab, und geradeaus befand sich eine Treppe, die sie in einen noch tiefer gelegenen Keller hinabführen musste.
Henriette hatte bemerkt, dass das rhythmische Grollen, das überall in Haus und Hof unaufhörlich präsent war, sodass man es nach einer Weile gar nicht mehr wahrnahm, hier unten lauter war. Offensichtlich näherten sie sich seiner Quelle, und Henriette verspürte einen ersten Anflug von Neugier. Vor einer grobgezimmerten Holztür machten sie halt. Die Mauern links und rechts atmeten Kälte und bebten von den Erschütterungen dessen, was immer sich hinter dieser Tür verbarg.
Regenmacher zog erneut einen Schlüssel aus der Tasche, und dann betraten sie einen weiten, von elektrischem Licht erleuchteten Saal.
Henriette begriff nicht gleich, was sie sah, ob es eine Maschine oder monströses Leben war, eingesperrt in einen metallenen Käfig. Es sah aus, als ob es atmete und einen Herzschlag hatte, und doch war fast alles daran aus kaltem Metall, und Metall fesselte es an Decke und Boden und hielt es an seinem Platz. Sie konnte beinahe spüren, wie es sich wand, wie es freizukommen versuchte. Endlich entlud sich die aufgestaute Angst des Tages, und sie schrie auf, unvermittelt und ungehemmt. Dennoch spürte sie den Schrei mehr, als dass sie ihn hörte, denn der Lärm, den dieses Wesen in der Mitte des Saals machte, war schräg und schrill und ohrenbetäubend.
«Das ist die Kaltmangel», schrie Regenmacher ihr ins Ohr. «Das Besondere an ihr ist nicht, dass sie mangelt, sondern ihre Energiequelle. Prinzipiell kann man jede Maschine damit antreiben.»
Henriette nickte, obwohl der Sinn seiner Worte kaum zu ihr durchdrang.
«Und dort hinten», Regenmacher wies zur
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