Kaltes Herz
Stahlstreben, die oben ungeschützt aus dem Käfiggeflecht herausragten, mussten ihr ins Fleisch schneiden. Wenn sie abrutschte, konnte sie sich den Stahl in den Leib rammen, sieben Zentimeter tief, er wusste es – auch ohne seine Pläne zu konsultieren.
Heinrich packte ein Stück Rohr, das ihm lang genug erschien, und eilte damit zur Maschine zurück.
Ida, fass zu! Halt dich fest, komm vorsichtig runter!
Doch als Heinrich das Rohr zu ihr hinaufstreckte, schwang sie auch das zweite Bein über den Käfigrand, um sich ihm zu entziehen, sie hielt sich nur noch mit den Händen, er sah die Muskeln in ihren Armen zittern, sie suchte nach einer Möglichkeit, sich festzuhalten, den Abgrund vor sich zu überwinden, und dann kam der nächste Ruck, als die Walze das hintere Ende des Walzbetts erreicht hatte.
Sie schrie nicht, als sie fiel. Sie schrie erst, als die zurückkehrende Walze ihren ausgestreckten Arm erfasste. Doch sie schrie nicht lange, denn es war ihr Kopf, welcher der Walze am zweitnächsten lag.
Heinrich stand da, das Rohr in der Hand.
Und die Walze rollte, hielt inne, wendete und rollte. Rollte und rollte.
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19
C harlie presste sich die Hände auf die geschlossenen Augen. Nachdem er lange in seiner Zelle hin und her gegangen und von dem Mann gegenüber angeschnauzt worden war, dass er endlich Ruhe geben sollte, hatte er sich hingelegt und versucht zu schlafen. Aber es war unmöglich gewesen. Das Laufen hatte ihn zumindest ein bisschen abgelenkt, doch liegend konnte er den Gedanken nicht ausweichen. Wieder in Anstaltskleidung zu sein, das erinnerte ihn ans Armenhaus, an die Stockhiebe, die er als Junge zur Strafe bekommen hatte. Sie wurden vor aller Augen zeremoniell ausgeteilt. Ein einziges Mal hatte es ihn getroffen, mit elf, und er war ohnmächtig geworden vor Schmerz. Als sein Vater ein neues Engagement hatte und ihn aus dem Armenhaus holte, hatte er sich geschworen, nie mehr dorthin zurückzugehen. Als sein Vater das nächste Mal die Miete nicht zahlen konnte, als er das nächste Mal zur Fürsorge gemusst hatte, da war Charlie davongelaufen, um für sich selbst zu sorgen. Eine Weile war er mit einer Theatertruppe durch England gezogen. Die relative Freiheit, die er und die anderen sechs Jungen genossen hatten, die ebenfalls mit dem Schaustellerehepaar in zwei großen Wagen umhergezogen waren, gehörte zu den besten Erinnerungen seines Lebens. Sie hatten genug zu essen gehabt, wurden im Singen und Tanzen und in den wichtigsten Schulfächern unterrichtet, und auch wenn Mister Landlord die Jungs geschlagen hatte, wenn sie ihre Schritte nicht konnten, so war es insgesamt doch ein gutes Leben gewesen, voller Jungenstreiche und Gelächter. Aber auch voller Kämpfe um die besten Plätze, den meisten Applaus, den größten Anteil am Liebeskuchen.
Als man ihm ein Soloengagement anbot, hatte Charlie zugegriffen. Von da an war es langsam, aber stetig bergauf gegangen. Und trotzdem … Warum hatte er nicht den Kontakt zu den anderen Jungen gehalten, warum war er ihnen nicht treu geblieben? Charlie wusste es. Weil sie neidisch auf ihn gewesen waren. Wenn sie ihn jetzt sehen könnten, auf seiner harten Pritsche.
Dass Charlie keinen Schlaf fand, lag nicht daran, dass die Matratze zu hart oder die Decke zu dünn war, er hatte schon weit unbequemer, feuchter und kälter geschlafen. Nur, wo immer er sich auch hingelegt hatte, er war vor fremden Blicken geschützt gewesen. Hier hingegen brannte die ganze Nacht grelles elektrisches Licht im Gang zwischen den Zellen, und in unregelmäßigen Abständen ging ein Wärter auf und ab, blieb bisweilen auch stehen, schien auf irgendetwas zu warten oder zu lauschen. Mehrmals hatte Charlie die Augen einen Spaltbreit geöffnet, um zu sehen, was vorging. Doch das Gesicht des Wärters blieb im Gegenlicht immer unsichtbar. Blickte er in seine Richtung oder nicht? Sah er Charlies halb geöffnete Augen? Nicht zu wissen, ob er gesehen wurde, brachte ihn dazu, sich ruhig zu verhalten, obwohl ihm im Grunde danach war, das Eisenbett umzuwerfen, die Matratze herauszureißen, die Decke zu zerfetzen … Dabei schämte er sich nicht für die Dinge, die er getan hatte. Er schämte sich für das, was man in ihm sehen könnte, was man vielleicht auch bloß in ihm sehen
wollte
.
Sieht der wie ein Verbrecher aus? Schaut ihn euch an! Was ist mit seiner Nase? Ist er ein Sittlichkeitsverbrecher? Seht euch die Hände an! Ist er ein Dieb? Die Augen, wie eng stehen sie
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