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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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inmitten des Saals eine rätselhafte Arbeit verrichtete.
     
    Henriettes Rippen schmerzten, als sie Professor Regenmacher hinterherstolperte, ihr Herz schlug zu schnell, und sie hatte das Gefühl, in den Kellergängen kaum Luft zu bekommen. Es kam ihr vor, als würden sie viel zu lange hier unten herumirren, mussten sie nicht längst die grüne Tür erreicht haben? Und dann, endlich, war es, als übertrete sie nach gefahrvoller Reise die Schwelle der Unterwelt, kehre aus einem düsteren Traum ins Leben zurück. Beinahe erwartete sie, helles Sonnenlicht durch das Dielenfenster hereinfallen zu sehen, so lang war ihr der Aufenthalt in Onkel Heinrichs Reich erschienen. Doch es war noch immer Dunkel draußen. Vielleicht war in Wirklichkeit überhaupt gar keine Zeit vergangen, vielleicht hatte sie sich in einem Bereich von Nichtzeit aufgehalten. Der Professor griff Tasche und Mantel, die er in der Diele bereitgelegt haben musste, bevor er Henriette geweckt hatte.
    «Warum sagt er, dass ich lüge?», fragte Henriette atemlos.
    «Ruhig!», flüsterte Professor Regenmacher und bedeutete ihr, ihm weiter zu folgen. Leise öffnete er die Tür zum Hof. Draußen war es kalt, und Henriette fror in ihrem Nachtzeug.
    Professor Regenmacher führte Henriette in die Hofeinfahrt bis zum Tor. Schon wieder hatte sie das Gefühl, in einer Höhle zu stecken und die Wände drängten ihr unangenehm entgegen. Am Tor machte Regenmacher halt und zündete eine Lampe an, die dort an einem Haken hing, um besser in Henriettes Gesicht sehen zu können. Im flackernden Licht wirkten seine Züge weich und erstaunlich jung. Er lächelte.
    Dann nahm er ihr Gesicht in die Hände, große, kühle Hände, auf jeder Wange eine. Henriette atmete aus, entspannte sich, als Professor Regenmachers ebenso kühle Lippen ihre Stirn berührten.
    «Sie wissen, dass Sie außergewöhnlich schön sind?», fragte er.
    Henriette schüttelte den Kopf.
    Sie hatte das in den letzten Wochen so oft gehört. Vom Intendanten im
Wintergarten
, von Charlie, vom Wäschefahrer und nun auch noch von Professor Regenmacher, der ihr noch immer so rätselhaft und fremd erschien wie in Berlin, als er unvermutet an allen möglichen Straßenecken aufgetaucht war und sie beobachtet hatte.
    «Ich bin weder besonders noch besonders schön. Ich bin ein Mensch.»
    Ja, ein Mensch. Der mit anderen Menschen lachen und leben wollte und auch lieben. Singen. Freude schenken. Ja. Es gab Momente, in denen sie sich besonders fühlte. Wenn sie sang und sich das Bemühen um Ausdruckskraft plötzlich in etwas anderes verwandelte, wenn plötzlich eine Durchlässigkeit für das Größere, für das Dahinter entstand. Sie wusste, dass das die eigentliche Bestimmung des Menschseins war: diese Durchlässigkeit zu spüren und ihr Ausdruck zu verleihen.
    «Warum verfolgen Sie mich?»
    «Ich verfolge Sie nicht. Ich beschütze Sie seit dem Tag, an dem ich Sie entdeckt habe. Sie sind etwas Besonderes.»
    Henriette wich einen Schritt zurück und lachte laut auf. Das Lachen hallte von den Wänden der Toreinfahrt zu ihr zurück. Das waren Charlies Worte. Wie konnte dieser Mann so einfach seinen Text stehlen?
    «Ich bin nicht anders als jeder andere. Ich
bin
jeder andere. Wir sind alle eins, und niemand ist hervorgehoben oder besonders. Alles ist eins.»
    Jetzt war es Professor Regenmacher, der lachte, aber sein Lachen klang erstaunt, fast ehrfürchtig.
    «Liebe Henriette, genau das meine ich. Sie
sind
etwas Besonderes, denn dies sind Gedanken, die kaum jemand berücksichtigt und schon gar nicht so ein junges Mädchen wie Sie. Ein eingefleischter Romantiker dürfte ein wenig von dem begreifen, was Sie sagen, und es ist sogar ein hübsches Konzept, wenn man es mit dem Verstand denkt.» Regenmacher hielt inne. «Aber sagen Sie mir, wer außer Ihnen, den Sie persönlich kennen, kann das so
fühlen
wie Sie?»
    Professor Regenmacher sah sie an und wartete.
    Henriette antwortete nicht.
    «Sie müssen sich manchmal sehr einsam vorkommen, habe ich recht?»
    Woher konnte er das wissen? Sie hatte niemandem als Charlie je davon erzählt. Henriette sagte noch immer nichts.
    «Man sieht es in Ihren Augen. Sie sind zu groß und offen für diese Welt. Viel zu offen. Sie lassen zu viel an sich heran, verstehen Sie?»
    «Woher wollen Sie das wissen?»
    «Ich weiß mehr über Sie, als Sie ahnen, Henriette.»
    Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, sich in den Armen des Professors auszuruhen, sich bei ihm geborgen zu fühlen, aber sie wagte es

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