Kaltes Herz
ich in der Betstube gefunden.»
Damit überreichte er ihr das Buch. Idas Buch. Henriettes Herz machte einen Satz.
«Ich fand die Lektüre überaus interessant und aufschlussreich. Dennoch denke ich, dass junge Frauen wie Sie und Ida sich von solchen Dingen fernhalten sollten. Es schickt sich nicht für eine Frau und könnte erzieherische Konsequenzen nach sich ziehen.»
Damit zog er kurz den Hut.
«Auf Wiedersehen, Fräulein Keller. Ich hoffe, Sie gehen in sich und denken noch einmal gründlich nach. Und vergessen Sie nicht, meine Wäsche zu waschen. Ich bin bald zurück.»
Er öffnete das Tor und schlüpfte hinaus.
Henriette war allein.
Sie öffnete den Beutel und blickte hinein.
Er enthielt schmutzige Wäsche.
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18
D er Rest der Nacht war kümmerlich kurz und voll wirrer Träume. Regenmacher hatte die Saaltür von außen abgeschlossen, als er mit Henriette gegangen war, und obwohl Heinrich einen eigenen Schlüssel um den Hals trug, hatte er sich plötzlich eingesperrt gefühlt. Seine Finger hatten immer wieder nach dem Schlüssel getastet, hielten ihn umklammert, während er unruhig vom Fallenstellen und einer wilden Jagd durch monddurchleuchtete Wälder träumte. Es war die Maschine, sie fraß den Wald, sie fuhr auf Rädern und pflügte sich wie ein urzeitliches Ungeheuer brennend und sengend durch Busch und Baum. Und dann spürte er einen sanften Windhauch auf der Stirn und eine Präsenz, so real, dass die Empfindung ihn hochschrecken ließ.
Vor seiner Liege stand ein Mädchen, nur ein weiterer Traum, ein zitternder, frierender Traum im weißen Nachthemd, die Hand nach dem Schlüssel ausgestreckt, der an seiner langen Kette auf der Matratze neben ihm lag. Ihr Haar war rötlich, ihr Gesicht rund, die Augen hell. Ida! Er hatte sie oft im Hof beobachtet, wenn sie Wäsche von den Leinen abnahm, von all seinen Töchtern schien sie die freundlichste, die mit dem sonnigsten Wesen zu sein. Ida! Wie kam sie hier herein? War sie real?
Heinrich wurde sich bewusst, dass er kein Tuch um Mund und Nase Trug, dass sie auf das starrte, was einmal sein Gesicht gewesen war. Mit einem Ruck setzte er sich auf, um nach dem Tuch zu greifen. Und Ida schrie auf, wich zurück. Ida!, wollte er sagen. Hab keine Angst! Ich werde … er streckte die Hände nach ihr aus … Doch sie wich zurück, drehte sich um, rannte zur Tür, rüttelte daran.
Ihre bloßen Arme sahen bläulich aus, sie fror. Wie lange hatte sie hier unten zugebracht? Sie musste mit Henriette und Regenmacher gekommen sein. Wie lange hatte sie ihn im Schlaf beobachtet, wie lange versuchte sie schon, an seinen Schlüssel zu gelangen? Heinrich warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. Es war fast acht Uhr. Er hatte doch noch geschlafen, die Nacht war vorbei. Und das arme Kind hatte die ganze Zeit hier bei ihm verbracht?
Ida!
In seiner Vorstellung klang das Wort zärtlich, beruhigend. Doch seine Ohren hörten nur einen schmatzenden Klang, als seine Kehle das Wort zu formen versuchte. Heinrich stand auf. Er musste ihr ja bloß die Tür aufschließen, dann würde sie schon verstehen, dass er ihr nichts tat.
Als er auf sie zuging, langsam, um sie nicht noch mehr zu erschrecken, blickte sie um sich, schien nach einer Möglichkeit zu suchen, ihm auszuweichen. Heinrich hob beschwichtigend die Hände, doch das schien sie noch mehr in Angst zu versetzen, ihre Augen waren weit, ihr Atem ging zu schnell. Als Heinrich auf kaum zwei Meter heran war, brach sie nach links aus.
Sie griff in die Schutzgitter der Maschine, zog sich hoch. Kletterte hinauf.
Nein! Das ist zu gefährlich!
Heinrichs Kehle entkam ein röhrender Laut.
Vorsicht, Ida!
Er lief, um sie aufzuhalten.
Sie verstärkte ihre Bemühungen, der Schutzkäfig schwankte und schepperte.
Dafür ist er nicht gemacht!
Er sollte doch nur verhindern, dass man versehentlich in den Walzbereich geriet.
Ida war außer Reichweite, bevor Heinrich nach ihr greifen konnte.
Du musst da runterkommen. Siehst du nicht die Risse in der Decke? Die Belastung!
Die Walze lief hin, lief her, jeder Weg ein Ruck, eine Erschütterung, die an der Maschine, dem Käfig, den Halterungen in Decke und Boden zerrte.
Heinrich lief zu den Arbeitstischen, um nach irgendetwas zu suchen, er musste sie absichern, vielleicht eine Stange, an der sie sich festhalten konnte, ein Seil … irgendetwas.
Ida schwang ein Bein über den oberen Rand des Käfigs, klammerte sich fest. Mit jedem Ruck erzitterte auch sie, und die dünnen
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