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Kaltes Herz

Kaltes Herz

Titel: Kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Freise
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beieinander, ist er ein Betrüger? Hat er eine fliehende Stirn, ein zurückweichendes Kinn? Oder zeugt sein Gesicht von klarem Verstand und starkem Willen?
    Hetti hätte Mitleid mit ihm gehabt, wenn sie ihn so sähe. Und genau diese Vorstellung beschämte ihn noch mehr. Dann kam Charlie der Mann mit dem Opernglas in den Sinn, seine Blicke, von denen er ebenfalls nie gewusst hatte, wann sie ihn wieder treffen würden.
    Doch dies hier war schlimmer. Hinzu kamen die Gedanken. Und die Erinnerung an den letzten, triumphierenden Blick seines Vaters. Warum hatte er ihm das angetan?
    Charlie nahm die Fäuste von den Augen und blinzelte in die Helligkeit des Gangs. Silberne Sternchen blitzten in seinem Blickfeld. Er war kein Mörder. Es war nicht seine Schuld gewesen.
    Warum bist du dann fortgelaufen, du Idiot? Warum bist du fortgelaufen?!
Diese Frage hatte er sich heute Nacht unzählige Male gestellt. Die Antwort, die er schließlich fand, war so unwahrscheinlich wie selbstverständlich:
    Damit du Hetti begegnen konntest.
    Alles, was geschehen war, bekam auf diese Weise einen Sinn. Und zugleich war es so sinnlos, denn wenn man ihn nun nach London zurückschickte, würde Hetti für ihn so unerreichbar sein wie nie zuvor.
    Wenn es stimmte, dass alle Ereignisse seines Lebens auf diesen einen Punkt zugelaufen waren, auf die Begegnung mit Hetti, dann durfte er es nicht zulassen, dass er sie nicht mehr wiedersah. Er musste hier raus. Charlie stand auf und drückte sein Gesicht an die Gitterstäbe der Zelle.
    «He, Wärter!»
    Charlie wartete, und als keine Antwort kam, rief er noch einmal, diesmal lauter.
    Aus den anderen Zellen kam unterdrücktes Fluchen und die Aufforderung, das Maul zu halten und endlich zu schlafen, doch Charlie ließ sich davon nicht abhalten.
    «Wärter!»
    Endlich hörte Charlie Schlüssel, das Quietschen einer Tür, Schritte.
    «Wer macht hier Krach?!»
    Charlie streckte einen Arm aus dem Gitter heraus.
    «Hier, ich!»
    Der Wärter kam heran. Es war derselbe, der schon die ganze Nacht über Wachdienst hatte. Jetzt, da er so dicht am Gitter stand, sah Charlie sein Gesicht, einen gezwirbelten Bart, eine Brille mit silbernem Rand, kleine, müde Augen dahinter. Er sah nicht aus wie jemand, der besonders wachsam war. Aber das konnte täuschen.
    «Was gibt es?»
    «Wie spät ist es?»
    «Kurz nach sechs. In einer halben Stunde ist Weckzeit.»
    «Ich möchte eine Aussage machen.»
    Charlie wollte von seinem Vater erzählen. Wenn man ihn nach Hause schickte, dann würde er unter Bewachung reisen, aber er würde etliche Male umsteigen müssen. Kutschen, Automobile, Eisenbahnen, Schiffe. Es würde zwei Tage dauern, bevor man ihn den britischen Behörden übergeben konnte. Zwei Tage mit vielfältigen Möglichkeiten zur Flucht. Nur musste er erst einmal hier heraus.
    «Hm, ich sage Bescheid», brummte der Wärter und wandte sich zum Gehen. «Nach dem Frühstück», fügte er noch hinzu.
     
    Zum Frühstück gab es dünnen Kaffee mit Zucker, Brot und genügend Butter, um satt zu werden.
    Danach schien es noch Stunden zu dauern, Stunden, in denen Charlie nichts anderes tun konnte, als auf der Bettkante zu sitzen und zu warten, bis seine Zellentür aufgeschlossen wurde. Es musste einen Schichtwechsel gegeben haben, ein neuer Wärter stand vor der Zelle.
    «Kann ich jetzt meine Aussage machen?»
    «Ick weeß nichts von Aussage. Ich soll Se nur nach vorne bringen.»
    Nun gut. Wenn er «vorne» war, was auch immer das bedeutete, musste er eben mit jemandem sprechen, der mehr Befugnisse hatte. Charlie lief vor dem Wärter her, blickte sich aufmerksam um.
    Wieder kamen sie in den zentralen Raum, von dem die vier Zellentrakte abgingen. Sie waren von hier aus alle bis zu ihrem Ende voll einsehbar, es gab nicht die geringste Chance, ungesehen durch den Mittelgang dieser Zellenflügel zu kommen. Selbst wenn es keinen Wächter hier gegeben hätte, bei einem Ausbruchsversuch müsste er an jeder Zelle vorbei. Charlie war sich sicher, irgendein missgünstiger Mitgefangener würde sich immer finden, der Alarm schlug, so wie es im Armenhaus bei jeder Regelwidrigkeit immer jemanden gegeben hatte, der zu einem Verrat bereit war, um sich so ein paar Vorteile zu verschaffen.
    Wieder wurden verschiedene Türen vor und hinter Charlie auf- und wieder zugeschlossen.
    «Da könnse sich hinsetzen.»
    In der Mitte des Raums standen ein Tisch, zwei Stühle. Sonst gab es nichts.
    Der Wärter stellte sich neben die Tür. Einen Moment später wurde

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