Kaltgeschminkt (German Edition)
meint sie mit einem verführerischen Zwinkern.
Dann geschieht etwas. Ich erhasche einen schnellen Blick auf ihr Gesicht, in dem die Lippen mittlerweile von vier stecknadelspitzen Fangzähnchen geteilt werden. Zwischen ihnen schnellt immer wieder ihre flinke Zunge hervor um den roten Strom aufzufangen. Dann bemerke ich, wie sich ihr langes Haar bauscht, wie sich die Spitzen rollen, dünne Strähnen um ihren Kopf wirbeln. Eine unwirkliche Böe macht ihr Haar zu etwas Tanzendem. Sie selbst scheint nichts davon zu bemerken. Die Blutfee zieht langsam das Skalpell aus der Ader. Ehe sie ihre Augen öffnet, verglimmt ein kaum merkliches Strahlen unter ihren halb gesenkten Wimpern. Diesmal ist es ein echtes, nicht eines der eingebildeten, die ich oftmals bei James zu sehen dachte. Ich trete unsicher etwas zurück und betrachte diese beiden Menschen, die ich eigentlich so gut wie gar nicht kenne. Aber um sich zu wundern, habe ich bereits zu viel erlebt. Kurz bereue ich es, James nicht noch mit ein paar Worten bedacht zu haben. Er wimmert leise, als das Skalpell erneut eine geschwollene Ader unter seiner Haut öffnet. So geht es weiter, bis die ersten Sterne sich zögernd am Himmel zeigen. Es ist noch nicht spät, doch der Winter kommt heuer scheinbar etwas eher. Ich denke an die Sterne, an den Mond, den alles versiegelnden, und die Sonne, deren anklagendes Gleißen ich zukünftig wohl nur mehr schwer ertragen können werde. Meine Gewissensbisse überraschen und verstören mich gleichermaßen. Ich schüttle energisch den Kopf, um sie aus meinen Gedanken zu verjagen. Dabei denke ich an meinen Plan. Ich berühre Rachelle leicht an der Schulter, und sie sieht mit blutverschmierten Zähnen zu mir auf. Ich bedeute ihr vage, dass ich nach unten gehe. In die Bibliothek.
»Geh nur, mein Liebster, ich komme hier gut allein zurecht.« Erneut beugt sie sich über den gelegentlich zuckenden Körper um sich eine neue Quelle zu suchen. »Ich rufe dich, wenn der letzte Herzschlag fällig ist.«
Ich nicke.
»Gut. Bis dann.«
Im medizinischen Sinn, so erfahre ich aus einem monströs dicken Wälzer, den ich unter Einsatz der Unversehrtheit meiner Schädeldecke aus den oberen Regalreihen fische, kann man durch Unfälle ein Schädel-Hirn-Trauma erleiden, welches eine Amnesie hervorrufen kann . Können ist mir nicht wird genug. Ich lese weiter und beschließe, dass ich einer selbstherbeigeführten Epilepsie durch Vergiftung oder Stromschlag ebenso abgeneigt bin, wie einer äußerst ungewissen Enzephalitis durch Viren, Pilze oder verwandte entzündungsfördernde Wege zur Hirnhautschädigung. Schließlich liegt mir wenig daran, meiner blutrünstigen Liebsten als sabberndes Häufchen in meinem neuen Leben wieder zu begegnen. Während mein Finger stoisch über die Seiten streicht, denke ich über Rachelle nach. Ich liebe sie, kein Zweifel, nur ist es diesmal weniger obsessiv; nicht wie bei der männerverzehrenden Hexe Rhona. Es ist eine ehrliche Sehnsucht, die ich nach ihr habe, sobald sie nicht in meiner Nähe ist. Tief in mir nagt noch immer die Eifersucht, die ich empfunden habe, als sie mir von sich und James erzählte, als ich den kleinen Goth in ihrer Wohnung entdeckte, und besonders als mir der fahle Polizist die Tür öffnete. Ob sie kurz zuvor mit ihm geschlafen hat, kann ich nur annehmen. Etwas ist jedoch definitiv zwischen ihnen gelaufen. Selbst wenn es nur ein einseitig masochistisches Spiel gewesen ist. Ich schlage mit der Faust hart gegen die Wand. Es kracht laut, jedoch der ausbleibende Schmerz verrät mir, dass es nicht meine Knochen waren. Schade. Ein wenig Schmerz würde meiner überforderten Seele gut tun. Sie wachschreien.
Hier lese ich, dass man sich zum Zweck einer Hypoxie die Sauerstoffzufuhr so lange abschnüren kann, bis sich die Gefäße soweit verengt haben, dass die Organe nur mehr unzureichend bis gar nicht mehr versorgt werden und somit eine Amnesie möglich ist. Ablehnend verschränke ich die Arme. Möglich ist zu wenig, viel zu wenig. Außerdem hat eine Hypoxie gräuliche oder bläuliche Verfärbung der Haut und livide Lippen zur Folge. Sicher. Erneut lande ich bei der Elektrokonvulsionstherapie oder Elektroschocktherapie. Sie soll auch bei therapieresistenten Depressionen hilfreich sein. Wie schön, dennoch wieder nur ein Kann . Außer diesen extravaganten Methoden wird noch erwähnt, dass man sich ebenso in die kurzzeitige Amnesie saufen als auch fixen kann. Abschätzig schiebe ich den Wälzer von mir und
Weitere Kostenlose Bücher