Kaltgeschminkt (German Edition)
stöbere weiter durch die etwas derangierte Ordnung der Bücherwelt. Gerade ertönt von oben ein erstickter Schmer- zensschrei. Dann ein Stöhnen. Verärgert hoffe ich, dass es nicht aus Lust erzeugt worden ist. Mühevoll schüttle ich den Gedanken ab. Wie auch kann ich mir anmaßen zu erwarten, dass diese makellose Schönheit dort oben mir allein treu ist. Während ich nach einem Pflanzenführer aus dem achtzehnten Jahrhundert greife, nehme ich mir vor, ihre Kontakte zu allem Männlichen drastisch einzuschränken. Der ›Große Pflanzenführer‹ bietet mir unzählige Möglichkeiten an, blutigen Durchfall, Krämpfe, Leber- und Nierenschäden mittels wild wuchernder Blätterknöllchen herauf- zubeschwören. Genervt durchpflüge ich das krankheits- und todbringende Kompendium. Kurz vor der endgültigen Kapitulation fällt mir ein Wort ins Auge, das so offensichtlich ist, dass ich beinahe geneigt bin, hysterisch zu kichern. Das das stärkste Gift enthaltende Gewächs, gerne mit Heidel- oder Brombeeren verwechselt, entfaltet seine Wirkung im menschlichen Körper bereits nach fünfzehn bis fünfzig Minuten. Symptome sind zuerst trockene Schleimhäute, extreme Unruhe, Desorientierung, dann Halluzinationen, Delirium bis hin zu Krampfanfällen, schließlich zentrale Atemlähmung und schließlich eine deftige Amnesie vor dem endgültigen Koma. Bevor es jedoch zu Letzterem kommt, muss man natürlich der Natur Einhalt gebieten. Wie man das macht, finde ich später heraus.
Ich betrachte das detaillierte Bild der Atropa , der Tollkirsche. Zur Sicherheit blättere ich noch ein wenig in einer Uralt-Ausgabe des ›Zimbardo‹. Dort bietet man an, das Gedächtnis auch durch traumatische Ereignisse, sozusagen eine psychologisch-humane Gehirnwäsche, zu erleiden. Leider nicht bei mir. Bei meiner Flut an Traumata in den letzten Tagen müsste ich das Atmen, Essen und Pinkeln neu erlernen. Auch Veranlagungen in der Genetik kann ich ausschließen. Dennoch bin ich überrascht, wodurch man sein Gedächtnis so verlieren kann. Bei einem Eintrag jedoch stutze ich kurz. In diesem Moment ruft Rachelle nach mir. Scheinbar hat sie James so gut wie ausgeblutet. Eilig trenne ich die Seite heraus und lege sie als Lesezeichen in das Pflanzenbuch.
›Die transiente globale Amnesie ist eine anterograde und retrograde Amnesie ebenso wie Orientierungsstörung und akute Verwirrtheit.‹
Es braucht nicht mehr als vier Minuten Ihrer Zeit, bis der Tod eintritt. Wenn der letzte Tropfen Blut aus dem menschlichen Herz herausgeflossen ist, denkt der Körper, nicht das Gehirn, dass er noch weitere vier Minuten überleben kann. Warum das so ist? Was denken Sie denn? Wir stehen über den bleichen, beinahe ausgebluteten Körper gebeugt. James ist so fahl wie der masochistische Polizist mit der Narbe, und so kalt wie der Streber Yngve, der noch immer im Keller vor sich hin modert. Sicher hat James vergessen, ihn fachgerecht zu entsorgen. Später sehe ich einmal kurz nach. Das dunkle Haar klebt ihm an den Wangen und am Hals, einige Spitzen sind mit ein wenig Blut verklebt. Die Hauptadern stechen blau und grotesk unter der wächsernen Haut hervor.
»Die Psychopaten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren«, stellt James fest.
Seine Stimme ist kaum noch hörbar. Ich frage mich ernsthaft, warum er in seinen letzten Minuten noch über derartige Nichtigkeiten plaudert. Ich tue ihm den Gefallen.
»Wo hattest du den her?«, frage ich unbeholfen.
»Aus der geschlossenen Klinik … in einer kleinen ehemaligen Hansestadt, nicht weit von hier … Salzhandel, früher mal. Da laufen sie überall frei herum … überall.«
Er lächelt schwach. Meine Augen suchen Rachelles Blick, der aufgeregt über den mit kleinen Kerben übersäten Körper ihres ehemaligen Liebhabers flattern. Die Wunden bluten längst nicht mehr, wo sollte es auch herkommen?
»Du hast ihn … umgebracht?«, fragt er heiser.
Ich schüttle den Kopf.
»Schlimmer.«
Sein Blick ist bemerkenswert ruhig, kein Beben der Lider wegen der Übelkeit die er zweifellos verspürt, keine verzweifelte Schnappatmung wegen dem Schwindel.
»Ich hätte wirklich nie geglaubt, dass du es so weit treiben könntest«, schnauft er.
»Willst du deine Kräfte nicht sparen?«, fordere ich ihn auf.
Ich verabscheue Anschuldigungen. Sie sind ohnehin meist sinnlos.
»Wozu?«, fragt er ehrlich überrascht.
Richtig. Wozu. Daher antworte ich knapp. »Hättest du gedacht, dass ich mich zum Niedermetzeln hinlege?«
Er lächelt
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