Kaltherzig
nie eine Familie.
Irgendwann in meinen Dreißigern hatte ich eine Art Frieden damit gemacht. Meine Berufung war eine andere. Ich widmete mich meiner Laufbahn. Da ich ohnehin nie das geselligste Geschöpf gewesen war, hatte ich Übung darin, für mich zu bleiben. Damit kam ich gut zurecht. Ich musste niemandes Vorstellung von Perfektion genügen oder jemandes nicht endende Enttäuschung ertragen. Ich war in der Lage, eine gewisse Befriedigung in mir selbst zu finden. Zufriedenheit - oder so nahe ich diesem Zustand vermutlich kommen konnte.
Ich hatte mich daran gewöhnt, so unverantwortlich, so spontan zu sein, wie ich wollte. Ich durfte so eigensinnig und egoistisch sein, wie ich wollte. Ich hasste es, Kompromisse zu schließen, was meine Zeit, meine Pläne betraf. Ich musste nicht auf den Zeitplan oder die Erwartungen von jemand anderem Rücksicht nehmen.
Das war mein Handel.
Aber es gab Zeiten - etwa, als die zwölfjährige Molly Seabright zu mir kam und anfing, sich auf mich zu verlassen, und nun mit Lisbeth, die in vielerlei Hinsicht jünger war als Molly -, da das alte Verlangen wieder hochkroch und ich mich fragte, wie anders alles geworden wäre, wenn... Ich ließ es nie lange zu. Es tat zu weh und diente keinem Zweck.
Ich stellte eine Schale Suppe auf ein Tablett und brachte es ins Gästezimmer.
Lisbeths Lockenhaar war noch nass, aber nun immerhin sauber. Sie hatte die Sachen angezogen, die ich ihr herausgelegt hatte, und ihre Lieblingsstellung für den heutigen Tag eingenommen - sie saß mit angezogenen Knien ans Kopfbrett des Bettes gelehnt. Ihre Finger spielten mit dem kleinen Medaillon, das sie trug.
»Iss ein wenig davon, wenn du kannst«, sagte ich und stellte das Tablett auf den Nachttisch. »Es beruhigt deine Kehle. Ich wurde neulich selbst gewürgt, deshalb weiß ich Bescheid.«
Sie sah mich an und wusste nicht recht, was sie davon halten sollte.
Ich zuckte die Achseln. »Die Welt fährt rasant zur Hölle. Was soll ich sagen.«
Lisbeth schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie das alles passieren konnte«, sagte sie. »Ich verstehe es nicht.«
»Da, wo du herkommst, werden die Leute wohl nicht ermordet und geschlagen und wie Scheiße behandelt.«
Sie hörte mir nicht zu. Sie legte die Hände an den Kopf, als müsste sie ihn zusammenhalten.
»Es ist alles meine Schuld«, murmelte sie.
»Du musst eine hohe Meinung von dir haben.«
Verwirrt und gekränkt, öffnete sie die Augen und sah mich an, wartete offensichtlich auf eine Erklärung.
»Wenn du glaubst, dass du die Macht hast, das Universum und alles darin zu steuern«, sagte ich. »Du glaubst, wenn du Irina nur davon überzeugt hättest, nicht zu dieser Party zu gehen... Aber wir wissen beide, dass man Irina nicht davon abhalten konnte, etwas zu tun.«
»Ich habe sie gebeten, nicht hinzugehen.«
»Dann hast du alles getan, was du konntest.«
Sie wandte den Kopf ab und sah aus dem Fenster. »Ich wünschte... Ich wünschte...«
»Falls du sagen willst, du wünschtest, du wärst stattdessen gestorben, dann spar dir die Luft. Es lag nicht in deiner Hand, und so läuft es manchmal eben. Nimm deine Auszeiten,
wenn du sie bekommst, Lisbeth, das Leben wird sich früh genug wieder gegen dich wenden.
Ich habe einmal eine sehr schlechte Entscheidung getroffen, und sie hat einen Mann das Leben gekostet, der nichts dafür konnte«, fuhr ich fort. »Ich stand dabei und sah, wie ihn ein Schuss ins Gesicht traf. Er hatte eine Familie, und die muss wegen mir jetzt ohne ihn auskommen.«
»Fühlen Sie sich nicht schuldig?«
»Doch, fürchterlich schuldig. Aber das macht ihn nicht wieder lebendig, was nützt es also? Ich habe eine Menge Zeit damit vertan, mich selbst zu bestrafen. Niemand hat mir deshalb einen Orden umgehängt. Die Welt ist kein besserer Ort deshalb.
Niemand mag Märtyrer, Lisbeth«, sagte ich. »Jetzt versuche ich, morgens aufzustehen und ein anständiger Mensch zu sein, etwas Gutes aus mir zu machen, jemandem zu helfen. Ich schätze, das ist das Beste, was ich tun kann, um meinen Fehler wiedergutzumachen.
Spar dir die Jahre des Selbsthasses, die Vergeudung deiner Substanz und mach einfach weiter.«
Lisbeth sah mich an und wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Was hätte ich doch für eine Wahnsinnsmutter abgegeben«, sagte ich sarkastisch. »Donna Reed würde sich im Grab umdrehen.«
»Wer ist Donna Reed?«
Ich sah sie strafend an. »Dafür fährst du aber wirklich zur Hölle.«
Sie fragte mich
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