Kammerflimmern
vor dem GRUS lief, dachte er nicht an das außergewöhnliche Wetter. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, der blauer, klarer und wärmer war als an einem schönen Tag im Juli. Der ewig lange Winter schien einen Schuldschein zur augenblicklichen Einlösung ausgestellt zu haben: Jetzt sollte es Sommer werden.
Oberarzt Lars Kvamme blickte nicht einmal auf. Er wollte in der Kantine vorbeischauen, ehe er seinen Arbeitstag begann. Er warf einen Blick auf die Armbanduhr und fluchte leise, als er sich den riesigen gläsernen Krankenhaustüren näherte. Er kam fast anderthalb Stunden zu spät. Eine achtzig Jahre alte angeheiratete Tante aus Lillehammer war über das Wochenende zu Besuch gewesen und hätte eigentlich am Sonntag zurückfahren wollen. Sie hatte sich jedoch eine leichte Erkältung zugezogen, was Lars Kvammes Frau zu einer drohenden Lungenentzündung aufblies. Die beiden Frauen hatten beschlossen, dass die Tante bleiben solle, bis es ihr besser ging.
Keine der beiden hatte gefragt, wie er das sah. Als Lars Kvamme den Besuch an diesem Morgen endlich zum Zug hatte bringen dürfen, hatte der Zug Verspätung.
Deshalb hatte Lars Kvamme die Morgenbesprechung verpasst.
Als er das Foyer betrat, mit Kiosk, Café, Blumenladen und einer gut sortierten Buchhandlung, regte er sich noch mehr auf. Über die Eingangshalle des neuen Krankenhauses, die viel mehr Ähnlichkeit mit einem Einkaufszentrum hatte, und über die Morgenbesprechung am Vortag.
Es war um eine Belanglosigkeit gegangen, einen verstorbenen Rentner. Traurig für die Angehörigen, natürlich, aber darüber hinaus nicht zutiefst tragisch. Der Mann war hoch in den Siebzigern gewesen und aufgrund eines akuten dekompensierten Herzversagens eingeliefert worden. Es war nicht so, dass Lars Kvamme das nicht wichtig genommen hätte: Zu den unangenehmeren Seiten des Arztberufs gehörten die Begegnungen mit trauernden Angehörigen, wenn die Natur sich von moderner Medizin nicht hatte besiegen lassen.
Lars Kvamme starrte zu Boden, als er zur Angestelltenkantine ging, die, für das Publikum unzugänglich, im westlichen Zwischenstock eingerichtet war. Durch das Glasdach, das sich schräg zur Chirurgie hin wölbte, flutete das Sonnenlicht herein.
Sara Zuckerman hatte sich nicht in die Behandlung seiner Patienten einzumischen. Und wenn sie sich jetzt dazu berufen fühlte, die Karte auszuspielen, auf der stand, dass sie immerhin seine Vorgesetzte war, dann hätte sie das Gespräch unter vier Augen führen müssen. Dass er den Patienten nicht korrekt betreut habe und dass es indirekt seine Schuld gewesen sei, dass der Mann gestorben war, hätte er normalerweise abstreiten können. Stattdessen war er wie ein Idiot errötet, ein Mann von fünfundfünfzig Jahren, ein Herzspezialist mit dreißig Jahren Praxis, er war rot geworden und hatte sich nicht verteidigen können.
So war sie schon die ganze Zeit gewesen.
Arrogant. Besserwisserisch. So verdammt amerikanisch, obwohl behauptet wurde, sie stamme aus Tromsø.
An einem Tisch saßen drei Kollegen von der Station. Sie lachten über irgendeine Bemerkung, aber als sie ihn sahen, verstummte das Lachen so abrupt, dass er stehen blieb.
Wieder spürte er, wie die Wärme sich in seinem Körper ausbreitete.
Er rang sich ein Lächeln ab, das nicht erwidert wurde, und hob die Hand zu einem schlaffen Gruß.
Niemand forderte ihn auf, sich zu ihnen zu setzen.
Das Sonnenlicht war so grell, dass er die Gesichter der anderen kaum erkennen konnte. Sie waren nur dunkle Silhouetten, feindselige Gestalten, die nicht über seine Position und Erfahrung verfügten, die ihn aber lebhaft daran erinnerten, wie Sara Zuckerman ihn übergangen hatte, als die Chefposten an diesem neuen GRUS besetzt und die Professorentitel verteilt werden sollten.
Scheiß ... Scheiß ... Scheiß Judenfotze, dachte er, machte auf dem Absatz kehrt und lief hungrig zu seinem Büro.
20.15 Uhr
Markveien, Grünerløkka, Oslo
»Wie phantastisch! Ich hätte nicht gedacht, dass es hier in Løkka so große Wohnungen gibt!«
Der leitende Ingenieur bei Mercury Medical, Sverre Bakken, lächelte nervös, als ihm ein Glas in die Hand gedrückt wurde, und hielt Ausschau nach einer Sitzgelegenheit. Es gab viele Möglichkeiten. Gleich vor den großen Glastüren zur Terrasse stand eine niedrige Sitzgruppe. Vor dem Kamin, mitten im Zimmer, standen zwei tiefe Sessel. Der Esstisch, der die offene Küche mit dem riesigen Wohnzimmer verband, war für drei gedeckt, was ihn verwirrte.
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