Kammerflimmern
Reinhardswald‹ in einem Besprechungszimmer im sechsten Stock. Hauptkommissar Jost Stellmann betrat als Letzter den Raum. Lenz begrüßte alle Teilnehmer und stellte Stellmann kurz vor. Dann kam er zur Sache und schilderte den Überfall. Als er geendet hatte, sah er Bestürzung und Wut in den Gesichtern seiner Kollegen. Stellmann ergriff als Erster das Wort.
»Tut mir leid, dass ich hier gleich einhaken muss, aber diese Vorgehensweise ist kein Einzelfall«, begann er.
Die Männer am Tisch sahen ihn erstaunt an.
»Es ist die beliebte Masche einer bestimmten Organisation, den ›Abschtschjak‹. Das heißt übersetzt Sozialkasse, hat mit Nächstenliebe aber so viel zu tun wie Russland mit Demokratie.«
»Diese Leute schießen mit Farbmunition auf Polizisten?«, wollte Ludger Brandt erstaunt wissen.
Stellmann schüttelte energisch den Kopf.
»Ganz sicher nicht nur auf Polizisten, aber eben auch auf sie. Denen ist es egal, ob ihr Gegenüber Polizist, Politiker oder Richter ist. Genauso wie es ihnen egal ist, ob sie Männer oder Frauen misshandeln, einschüchtern oder töten. Und die Sache mit der Markierungsmunition ist als Warnung zu verstehen und sollte auch durchaus ernst genommen werden. Das ist, wie ich schon gesagt habe, eine bekannte Vorgehensweise von ihnen.«
Lenz dachte an die Ereignisse der vergangenen Nacht.
»Vielleicht haben sie ja deshalb nichts mit mir gesprochen, weil sie kein Deutsch können?«
»Das ist gar nicht so weit hergeholt. Obwohl es ebenso unwahrscheinlich ist, dass sie sich mit dir unterhalten, wenn sie des Deutschen mächtig sind, denn als besonders gesprächig sind sie nicht verschrien. Eine ihrer wichtigsten Regeln ist nämlich, niemals andere Mitglieder der Organisation zu verraten. Sie nehmen lieber die gesamte Schuld für eine Straftat auf sich und wandern für lange Zeit ins Gefängnis, als einen Komplizen zu benennen. Im Knast wird dann schon gut für sie gesorgt.«
»Warum haben wir hier noch nie etwas von denen gehört?«, wunderte sich Lenz.
Stellmann zuckte mit den Schultern.
»Weil die ›Abschtschjak‹ bei uns in Hessen noch nicht so aktiv sind wie beispielsweise in Bayern oder Baden-Württemberg. Die Kollegen da unten haben schon seit Jahren richtig Spaß mit ihnen. Drogenhandel, Schutzgelderpressung, Betrug, Geldwäsche, alles, was mit Körperverletzung zu tun hat, sind ihre Spezialitäten. Mittlerweile dringen sie auch in die Inkassoszene ein, ihr wisst schon, Moskau-Inkasso und so. Dabei gehen sie mit äußerster Brutalität vor und schrecken auch vor Mord nicht zurück.«
»Das klingt, als ob Sie sich schon etwas länger mit dieser Szene beschäftigen, Herr Stellmann«, bemerkte Brandt.
»Stimmt. Wir sind vor etwa vier Jahren zum ersten Mal mit dem Phänomen konfrontiert worden. Seitdem gibt es lose Kontakte zu den Kollegen im Süden und natürlich zum LKA und zum BKA. Aber bis jetzt hat das alles herzlich wenig gebracht, weil diese Leute wie ein Geheimbund organisiert sind, in den das Eindringen nahezu unmöglich ist. Selbst im Gefängnis, und viele von ihnen sitzen derzeit ein, leben sie ein Leben unter Ausschluss der Anstaltsleitung. Das geht deswegen, weil sie ein Kauderwelsch sprechen, das selbst russische Muttersprachler nicht verstehen. Sie verfügen über große finanzielle Mittel, sind unabhängig von anderen Gruppen und wegen ihres brutalen Vorgehens gefürchtet. Andere Gefängnisinsassen werden von ihnen dazu genötigt, Geld abzuliefern. Haben die keins, müssen Verwandte Bares beschaffen oder als Drogenkuriere arbeiten. Klappt auch das nicht, bekommen alle Prügel, und das nicht zu knapp. Das ganze System beruht auf brutalster Gewalt, die auch vor Verstümmelungen nicht haltmacht.«
»Woher wissen die denn, dass ein Mithäftling zu ihnen gehört?«, wollte Hain wissen.
»Über Frisuren und Tätowierungen, die sie als Erkennungszeichen benutzen. Leider ist bis jetzt noch kein Ermittler durchgestiegen, wie das genau funktioniert.«
»Und du meinst, dass die Jungs von letzter Nacht zu diesen Abks…?«
»›Abschtschjaks‹. Ja, da bin ich ganz sicher, denn kein Außenstehender, der noch ganz bei Trost ist, würde deren Vorgehen kopieren, weil sie das auf den Tod nicht leiden können. Im Landkreis Ebersberg bei München hat es mal eine neue Gruppe versucht. Nachdem zwei von ihnen tot waren, sind sie mit eingezogenem Schwanz abgehauen.«
Ludger Brandt zupfte sich nachdenklich am Ohr.
»Sie wollen uns also damit sagen, dass wir es mit einer
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