Kammerflimmern
sie.
»Scheiß drauf«, sagte er kurz.
Audun Berntsen hatte beschlossen, seinen Vater zu vergessen. Er war so fest entschlossen, dass er gar nicht daran dachte, dass ja gerade der Tod seines Vaters die Grundlage für sein kleines Shortingabenteuer gelegt hatte. Auf diese Idee würde er auch niemals kommen. Es gab immer neue Deals in der Zukunft, neue Aktien, mehr Geld, fettere Gewinne, schnelleres Cash.
Wenn die gefährlichste Schuld bezahlt wäre, hätte er noch immer fast 300 000 Kronen. Kleingeld, aber genug für einen neuen Anfang.
Er war wieder da und würde es diesmal schaffen.
Zwei gute Shortings dazu, dachte er, als er sein stickiges Zimmer im Wells Hotel für Vivian aufschloss, zwei, drei geschickte Schachzüge in nächster Zeit, und wieder wäre er der König auf dem Hügel.
Ohne Papas Hilfe.
22.30 Uhr
Båtstøjordet, Høvik, Bærum
Als Sara aufwachte, lag sie angezogen auf dem Sofa, ein Kissen unter dem Kopf und die graue Decke bis an den Hals gezogen.
Der Fernseher war ausgeschaltet, alle Lampen waren gelöscht. Es regnete nicht mehr, und das Wohnzimmer lag halbdunkel und abendblau durch das schwache Licht von außen da.
Das Telefon klingelte.
Ohne auf das Display zu blicken, meldete sie sich.
»Hallo?«
»Sara«, sagte eine begeisterte Stimme. »Congratulations. It’s Jerry!«
»Jerry«, murmelte sie und gähnte. »Wie nett.«
»So hört sich das aber gar nicht an«, lachte er am anderen Ende der Leitung.
»Hab ich mich beim Zeitunterschied geirrt? Ich dachte, bei dir wäre es etwa halb elf.«
»Das stimmt. Wirklich nett, von dir zu hören, Jerry. Wirklich. Es war nur ein langer Tag.«
Jerry Cohn war gewissermaßen der Bruder, der Robert nie geworden war, weil er zu jung und zu anders gewesen war. Jerry und Sara waren gleich alt, sahen einander ähnlich und waren mit genau der gleichen Selbstsicherheit geboren. Ihr Vetter hatte die Sommerferien in Tromsø geliebt, die beiden Kinder fuhren mit dem Rad nach Håkøybotten und angelten von der Brücke über der kleinen Insel im Kvaløysund Seelachs. Sie stiegen bei Mitternachtssonne auf den Tromsdalstind, kauften im Hafen Krabben und aßen sie gleich aus der Tüte, und dabei sprachen sie darüber, wie alles werden würde, wenn Sara erst alt genug wäre, um in die USA auszuwandern. Als sie achtzehneinhalb Jahre später endlich mit ihrem orangefarbenen Rucksack im JFK Flughafen stand und dachte, Norwegen für immer hinter sich gelassen zu haben, hatte Jerry sie dort abgeholt. Mit einem Kuscheleisbären unter dem Arm hatte er dort gestanden, breitschultrig, klein und fröhlich, mit wilden Locken auf dem Kopf und dem gleichen blauen Blick wie Sara. Der Eisbär war schmutzig grau und hatte schon längst ein Auge verloren, sie hatte ihn Jerry zu seinem fünften Geburtstag geschenkt.
»Du hast ja ein Chaos angerichtet«, sagte er, und sie konnte sein breites Lächeln hören. »Ich bin stolz auf dich!«
»Ja, danke.«
Ihre Schulter tat weh. Sicher hatte sie falsch gelegen. »Nicht alle teilen deine Begeisterung«, sagte sie. »Ich bin beurlaubt worden.«
»Beurlaubt? Du?«
Sein Lachen ließ das Telefon rauschen. »Bald wirst du wieder da sein, Sara. Es gibt auf der ganzen Welt kein Krankenhaus, das für eine Kapazität wie dich nicht sonst was geben würde.«
»Du kennst dieses Land nicht, fürchte ich.«
»Ich? Ich war doch in Norwegen, solange ich mich überhaupt zurück...«
»Du kennst Norwegen nicht«, fiel sie ihm ins Wort. »Nicht die Systeme hier. Nicht, wie ... alles funktioniert.«
Am anderen Ende der Leitung wurde es still.
»Hast du Probleme, Sara?«, fragte er endlich.
»Weiß nicht«, antwortete sie resigniert. »Hab den ganzen Tag meine Maske aufbehalten. Zuerst, damit ich all diese Interviews geben konnte, dann, um Thea keine Angst einzujagen. Aber ich weiß nicht. Ich weiß wirklich nicht. Es ist spät, und ich ...«
»Das hier ist größer, als du ahnst, Sara.«
»Größer als ... was meinst du?«
»Die SEC hat die Mercury-Medical-Aktie schon seit Monaten im Auge.«
»Die SEC?«
»U. S. Securities and Exchange Commission.«
»Ich verstehe nicht ganz ...«
Sie reckte sich, um die Stehlampe neben dem Sofa einzuschalten.
»Im Dezember sind einige kollossale Puts auf die Aktie gesetzt worden.«
»Puts«, sagte sie verständnislos. »Wovon redest du?«
»Ein Put ist eine Verkaufsoption«, sagte Jerry eifrig. »Das Gegenteil von einer Kaufoption, ganz einfach.«
»Klingt logisch«, murmelte Sara
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