Kammerflimmern
mit dem anderen Arm ein Stoffkaninchen an die Brust. Sara weinte lautlos, während sie das Kind im schwachen Licht einer Nachttischlampe ansah. Sie weinte, weil sie vergessen hatte, wie es ist zu weinen. Sie weinte um ihren Bruder. Sie weinte um eine Sechsjährige, die sich später an ihre Eltern kaum erinnern würde, und über sich selbst, die so wenig an ihre Familie gedacht hatte.
Nun gab es nur noch sie beide, Sara und Thea, und zu Thea sagte Sara meistens die Wahrheit.
Jetzt war Thea vierzehn und viel unterwegs. Samstags aber wollte sie am liebsten mit Sara zusammen sein. Nicht in erster Linie wegen des Sabbat, auch wenn sie immer wissbegieriger wurde, was ihren kulturellen Hintergrund anging, und vor Kurzem ihre Bat-Mizwa gefeiert hatte. Sie spielten samstags zusammen, sagte Thea immer, sie gingen spazieren, ins Museum und ins Kino. Alle zwei Monate besuchten sie zur Mincha, dem Nachmittagsgebet, die Synagoge auf St. Hanshaugen in Oslo.
Inzwischen war es fast halb zwei, und Sara saß in ihrem Büro und schaute auf den riesigen Park hinaus. Sie empfand eine vage Unruhe angesichts dessen, was Ola und sie festgestellt hatten. Wie sie auch argumentierte, immer tauchten neue Fragen auf.
Sie schreckte davor zurück, den Pathologen vom Vortag anzurufen. Nicht nur, weil es unhöflich war, samstags mit Dingen zu stören, die vermutlich keine Eile hatten, sondern auch, weil sie sich davor fürchtete, was er sagen könnte.
Schlimmstenfalls war der ICD, den sie Eriks Leichnam entnommen hatten, schon zerstört worden.
Endlich setzte sie die Brille auf und wählte die Nummer, die sie im Netz gefunden hatte. Es klingelte so lange, dass sie schon aufgeben wollte, als eine Stimme »hallo« kläffte.
»Hier spricht Dr. Zuckerman vom GRUS«, sagte sie. »Es tut mir wirklich leid, samstags privat zu stören.«
»Das macht nichts. Ich bin mit zwei Enkelkindern im Boot unterwegs.«
»Wie gesagt, es tut mir leid, aber ...«
»Worum geht es?«, fiel er ihr ins Wort.
Sara berichtete, und als sie fertig war, hörte sie im Hintergrund ein Kind rufen. Eine Möwe flog offenbar direkt über den Kopf des Pathologen hinweg, denn der Schrei klang so, als befände der Vogel sich im selben Zimmer wie Sara.
»Die Kollegin Henny Kvam Hole hat die Explantation vorgenommen«, sagte er viel zu laut. Sara hielt das Telefon deshalb weiter von ihrem Ohr weg. »Ich gehe davon aus, dass sie auch den ICD ausgelesen hat.«
»Weißt du ... weißt du, wo ICD und Ausdruck sich jetzt befinden?«
»Hast du kein Vertrauen zu uns? Kvam Hole ist eine hervorragende Ärztin.«
»Aber ja«, sie lächelte, in der Hoffnung, dass er diese Freundlichkeit bemerkte. »Es geht um ein Forschungsprojekt, und ich würde gern ...«
»ICDs sind Sondermüll«, sagte der Pathologe am anderen Ende der Leitung sarkastisch. »Sie enthalten Lithium und Schlimmeres, und bestimmt ist dieser schon zur Vernichtung eingesandt worden. Aber du kannst dich bei Dr. Kvam Hole erkundigen. Ich an deiner Stelle würde bis Montag damit warten.«
»Danke«, sagte Sara. »Dann will ich nicht länger stören.«
Der Mann legte auf, ohne noch mehr zu sagen.
»Arsch«, murmelte Sara und suchte sich im Netz die Gelben Seiten. Nur ein Mensch in der Umgebung von Oslo hieß Henny Kvam Hole. Eine Festnummer war nicht angegeben, nur zwei Mobilnummern. Sara versuchte es bei der ersten.
»Ja?«, fragte eine helle Stimme. »Hier ist Tiril!«
»Hallo«, sagte Sara zögernd. »Ich bin Sara Zuckerman und dachte, das sei die Nummer von Henny Kvam Hole.«
»Das ist Mama. Mein Telefon geht auf ihren Namen. Das ist echt unpraktisch, denn da kommen so viele Anrufe, die eigentlich für sie sind.«
»Sicher. Kann ich deine Mutter über die andere Nummer im Telefonbuch erreichen?«
»Gerade jetzt nicht. Sie ist bei einer Beerdigung in Stokkenes oder so.«
»Stokmarknes«, schlug Sara vor.
»Ja. Glaub schon. Der Mann von Mamas bester Freundin ist am Montag gestorben. Mama kommt erst am Dienstag nach Hause. Ich glaube, am Dienstag. Oder so. Ich bin bei Papa, und da weiß ich das nicht genau.«
»Vielen Dank«, sagte Sara und legte auf.
Bei der anderen Nummer meldete sich wirklich niemand. Sara wartete eine ewig lange Anrufbeantwortermeldung ab, bis endlich der Piepton kam. Als sie eine kurze und unvollständige Nachricht darüber hinterlassen hatte, was los war, zögerte sie einen Moment, ehe sie hinzufügte: »Deine Tochter hat erzählt, dass du bei einer frisch verwitweten Freundin bist.
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