Kammerflimmern
Ich hoffe, du kannst mich trotzdem so schnell wie möglich anrufen. Es ist wichtig. Es ist ...«
Sie wusste nicht so recht, was sie sonst noch sagen sollte, und legte auf.
Vermutlich konnte sie an diesem Tag nichts mehr tun. Wenn sie sich beeilte, könnte sie noch mit Thea das Henie-Onstad-Zentrum besuchen, um die John-Cage-Ausstellung zu sehen. Sie würden draußen essen und danach vielleicht einen Spaziergang am Meer machen.
5.15 p.m.
Mercury Medical Zentrale, Manhattan, NYC
Otto Schultz hatte den Samstag mit einem seiner Schwiegersöhne auf dem Golfplatz verbringen wollen, und davor hatte ihm gegraust.
Nachdem die Sache mit Suzanne und ihrem versoffenen Liebhaber ans Licht gekommen war, hatten nicht nur die Kinder angefangen, sich seltsam zu verhalten. Auch die beiden Schwiegersöhne waren reservierter als früher. Der eine, James, hatte bei ihrer letzten Begegnung angedeutet, es sei an der Zeit, die finanziellen Aspekte der Scheidung zu regeln. Als ob das den Knaben irgendetwas anginge. Die Sache war übel genug, und der Schwiegersohn hatte sich anhören müssen, wie Otto Schultz die Angelegenheit sah. Dass Suzanne jetzt mit ihrem Hippie in einem armseligen Bungalow in Kalifornien lebte, hatte sie selbst so gewollt. Auf ihrem Konto lief jede Woche eine nette Summe ein, und sie würde brav bis zum 15. Juni warten müssen, die letzte Frist für den schwindelerregenden und absolut übertriebenen Betrag, den Otto akzeptiert hatte, als sein Anwalt und ältester Freund ihm klargemacht hatte, dass der Spaß noch viel mehr kosten würde, wenn sie die Gerichte einschalteten.
Die Ereignisse der letzten Woche hatten Otto einen guten Grund geliefert, seine Verabredung mit James abzusagen. Er musste eine Extraschicht im Büro einlegen. Das kam so gut wie nie vor, die Wochenenden waren Otto Schultz heilig; am Freitagabend fuhr er nach Long Island und ließ sich vor acht Uhr am Montagmorgen nicht wieder sehen.
Er versuchte, sich auf die Nachrichten in der wichtigsten Mailbox zu konzentrieren. Die Niederlassung in Frankfurt konnte von großem Interesse des VW-Rentenfonds an einem beachtlichen Ankauf von Mercury-Aktien berichten. Die Niederlassung in Peking meldete, dass Mercury Phobos nunmehr über mehr als zwanzig Prozent des chinesischen Pacemakermarktes verfügte.
Gute Nachrichten, aber Otto Schultz konnte sich nicht freuen. Er klickte sich weiter durch die Nachrichten. Jay Leno wollte ihn zum Essen einladen und ihm seine neueste Anschaffung an der Autofront zeigen, einen Rolls-Royce Phantom Drophead Coupé. Jimmy Carter wollte sich mit ihm treffen, natürlich um über weitere Zuwendungen für das Carter Center zu quengeln.
Dieser Mann war auch nie zufrieden.
Die Tochter mahnte das Geld für die Mutter an.
In plötzlicher Wut löschte er die Mail. Dass seine Tochter ihm überhaupt irgendetwas zu befehlen versuchte, war unerhört. Er hatte seit ihrer Geburt für die Kinder gesorgt, hatte ihnen die besten Schulen und die luxuriösesten Ferien spendiert, hatte sich Stunden für Fußballspiele und Krippenspiele und Gott weiß was freigeschaufelt, und bis die Kinder ins Teenageralter kamen, hatte er dafür gesorgt, zum Gutenachtsagen zu Hause zu sein. Ab und zu jedenfalls. Die Hochzeiten der Töchter hatten außerdem so viel gekostet, dass er die Rechnungen keiner lebenden Seele gezeigt hatte, nicht einmal Suzanne.
Wieder piepte der Rechner.
Erbost las er die neue Mitteilung.
Er las, und dann las er noch einmal. Kratzte sich zerstreut die Wange, seine kurz geschnittenen Nägel schrappten über die Bartstoppeln.
Die Mail kam von der Security. Sie hatten die anonyme E-Mail vom Mittwoch in ein Internetcafé in Stockholm verfolgt. Nun aber auch noch den Absender zu finden hielten sie für aussichtslos. Sie warteten auf weitere Anweisungen.
Stockholm sagte ihm verdammt wenig.
In Stockholm gab es keine Niederlassung von Mercury Medical, ihr Hauptbüro für Nordeuropa lag in Oslo, und die schwedische Abteilung war in Göteborg.
Dort gab es eine große polytechnische Universität, von der viele Angestellte rekrutiert worden waren.
Die E-Mail, die ihn am Mittwoch gestört hatte, handelte von einem gewissen Erik Berntsen. Er sei tot, stand dort, einem schweren Infarkt erlegen. Die Meldung kam von einer Hotmailadresse, die Otto Schultz nichts sagte, und sie war nicht unterschrieben.
Er hatte über den Namen des angeblich Toten gestutzt, bis ihm eingefallen war, dass er zwei Artikel des Mannes gelesen hatte.
Einen
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