Kammerflimmern
während du und ich hier mit seinem ICD sitzen, den du übrigens in eine verdammte Brötchentüte aus der Kantine gesteckt hast? Dass wir beim Frühstück gemütlich den Ausdruck angesehen haben und dass der nämliche Ausdruck uns aufs Gröbste auffordert, uns sonst wohin zu scheren?«
»Arbeitet ihr?«, fragte plötzlich eine Stimme von der Türöffnung her.
Thea stand barfuß vor ihnen, in einer weißen Schlafanzughose und einem viel zu engen T-Shirt. Ihre blonden Haare standen nach allen Seiten ab, und um die Augen klebten Schminkereste, die schon am Vorabend hätten entfernt werden müssen.
»Aber nein«, sagte Sara lächelnd, packte die Tüte mit dem ICD und versteckte sie hinter dem Rücken. »Ola hat nach dem Dienst nur mal vorbeigeschaut. Um sich Frühstück zu holen.«
»Kriegst du zu Hause nichts zu essen?«, fragte Thea und sah Ola an, der so unbeschwert wie möglich den langen Ausdruckstreifen zusammenfaltete.
»Doch«, sagte er. »Aber ein Mann kann nie genug essen. Und jetzt fahre ich nach Hause zu Frühstück Nummer 2.«
»Grüße an die Familie«, sagte Sara und nickte kurz. »Ich ruf dich an.«
»Früh auf den Beinen«, sagte Ola, als er an Thea vorbeiging und ihr einen Kuss auf die Wange gab. »Meine Teenies lassen sich samstags frühestens um zwölf blicken.«
»Ihr habt mich ja geweckt«, sagte Thea, aber die Tür war schon hinter Ola ins Schloss gefallen.
13.02 Uhr
GRUS, Bærum
Sara Zuckerman arbeitete samstags nur ungern, aber das hatte keine religiösen Gründe.
Als sie vor acht Jahren beschlossen hatte, Cleveland zu verlassen, war das nicht nur aus Pflichtgefühl geschehen, wie alle glaubten. Die Geschichte, die sie anbot, wenn jemand Interesse hatte, war eine Lüge, die sich mit den Jahren wie eine schützende Haut um sie gelegt hatte.
Sara Zuckerman war eine gute Lügnerin.
Nur Thea hatte irgendwann die Wahrheit erfahren.
Ein gewisser Kristian Hanssveen, der Kompagnon von Saras Bruder bei der Z & H VVS, hatte Sara im Oktober 2002 nachts angerufen. Sie blieb mit dem Hörer in der Hand zitternd im Bett sitzen, nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Bruder Robert und seine Frau Turid tot waren. Sie waren auf dem Heimweg von ihrem Ferienhaus gewesen, als einem entgegenkommenden Lastwagen in einer Kurve ein drei Tonnen schwerer Felsblock von der Ladefläche gerutscht war. Der Stein traf den vorderen Teil von Roberts Wagen. Die kleine Thea konnte fast unverletzt vom Rücksitz geborgen werden.
In ihrer riesigen Wohnung, ganz allein, dachte Sara verzweifelt, dass sie es niemals geschafft hatte, zu einer Familie zu gehören. Sie hatte sich ihre eigenen Menschen ausgesucht. Der einzige Verwandte, den sie damals wirklich gern gehabt hatte, hieß Jerry Cohn und war der Sohn von Saras Onkel mütterlicherseits. Jeden Sommer während ihrer Kindheit war er aus New York in den Ferien nach Tromsø gekommen. Er war so alt wie Sara, so erfolgreich wie sie und so amerikanisch, wie sie es dann später auch geworden war.
Wenn Sara ihre Nichte noch nicht persönlich kennengelernt hatte, dann hatte das weniger mit ihrer Beziehung zu ihrem Bruder zu tun als damit, dass sie Norwegen schwer ertragen konnte. Jedenfalls hatte sie sich in Tromsø sehr unglücklich gefühlt. Vielleicht war sie nur unglücklich gewesen, weil sie jung gewesen war, dachte sie jetzt als fast Fünfzigjährige. Mit ihrem Bruder verstand sie sich gut, sie telefonierten und wechselten auch E-Mails, als diese Kommunikationsform sich ausgebreitet hatte. Robert hatte sich um alle praktischen Dinge gekümmert, als ihre Eltern Mitte der Neunzigerjahre in kurzem Abstand voneinander gestorben waren. Stets hatten sie akzeptiert, dass es schwierig für Sara gewesen wäre, nach Hause zu kommen. Roberts Hochzeit hatte sie ebenfalls verpasst, aber nicht aus bösem Willen. Sie musste am selben Tag auf einem kardiologischen Kongress in Barcelona den Hauptvortrag halten. Der Schwägerin war sie nur einmal begegnet, als das junge Ehepaar zwei Monate lang kreuz und quer durch die USA gereist war und für einen Tag bei ihr vorbeigeschaut hatte.
Fast alles war so gelaufen, wie Sara es für ihr Leben geplant hatte.
Nur das mit der Familie nicht.
Ihre Liebhaber waren ausnahmslos um einiges älter als sie und fast ausnahmslos anderweitig besetzt. In der Regel verheiratet. Sara war es mit peinlicher Gewissheit klar, dass ein Psychologe allerlei wahre Worte darüber hätte sagen können, warum sie sich immer das Unmögliche aussuchte, aber sie
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