Kammerflimmern
hatte nie das Bedürfnis verspürt, einen aufzusuchen.
Dieses Leben mit der langen Reihe von mehr oder weniger geheimen Liebhabern, alle von Rang und Stand, hatte sie mit Lüge und Verschweigen vertraut gemacht. Sie entwickelte Geschick darin, sich zu verstecken, und stellte irgendwann fest, dass es angenehm war, ihr wahres Ich für sich zu behalten. Das machte sie weniger verletzlich, wie es ihr schien, und sie lernte es, zwischen den zahlreichen Freunden und Bekannten zu differenzieren.
Sara Zuckerman war mit ihrem Leben zufrieden.
Nur Kinder hatte sie nie geplant.
Und so saß sie in einer Nacht im Oktober 2002 in ihrem Bett, vierzig Jahre alt und ganz allein, und erfuhr, dass auf der anderen Seite des Atlantiks ein elternloses Mädchen mit ihren Genen existierte. Sie versuchte, um ihren kleinen Bruder zu trauern. Aber immer fiel ihr nur ein, wie süß er gewesen war, als die Mutter mit dem kleinen Wicht im hellblauen Strampelanzug aus dem Krankenhaus gekommen war. Er hatte so gut gerochen. Als Sara 1980 ihr Zuhause verlassen hatte, war Robert erst zehn gewesen.
In der Nacht, in der sie von seinem Tod erfuhr, versuchte sie zu weinen.
Das war ihr nicht möglich. Es war der Gedanke an Thea, der sie wach hielt, den Blick in eine leere Dunkelheit gerichtet, aus der nach und nach der neue Tag wurde. Stunden darauf saß sie in einem Flugzeug nach Norwegen.
Sara Zuckerman reiste in ihre Heimat, um den Kampf um das Sorgerecht für ihre sechs Jahre alte Nichte aufzunehmen, in der Gewissheit, dass die Familie ihrer Schwägerin sich wehren würde. Den E-Mails ihres Bruders hatte sie entnommen, dass es eine eng verbundene Familie war, die jeden Sommer mehrere Wochen auf dem Hof von Theas Großeltern bei Notodden verbrachte. Die Kleine hatte drei Tanten und Onkel im passenden Alter. Sie alle kannten Thea. Sie hatten eine gemeinsame Geschichte mit Heiligen Abenden und Geburtstagen, Feiern zum Nationalfeiertag, ausfallenden Milchzähnen und Theas allererster Radtour.
Sara kam zum Kämpfen, aber das war nicht nötig.
Sie wurde am Flughafen von Theas Onkel abgeholt, einem hochgewachsenen ernsten Mann, der so verweint war, dass Sara fürchtete, er würde die sechzig Kilometer nach Bærum nicht schaffen. Sie setzte sich trotzdem ins Auto. Turids Familie hielt es für eine gute Idee, dass sie nach Båtstøjordet ziehen wollte, berichtete der Mann unterwegs mit leiser Stimme. Er dankte für ihre E-Mail und sagte, Turids Geschwister fänden alle, es sei den Versuch wert. Sie hatten selbst Kinder und wollten Thea nur ungern entwurzeln, wenn sich das verhindern ließe. Dass es das Beste für Thea sein würde, in ihrem Elternhaus wohnen zu bleiben, stand zweifelsfrei fest. Seine Schwester Irlin werde die kommende Woche bei Thea und Sara verbringen.
»Als Übergang«, sagte er und wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab. »Bis nach der Beerdigung und dann vielleicht noch einige Tage.«
Thea war wach gewesen, obwohl Saras Flugzeug Verspätung gehabt hatte und sie erst kurz vor Mitternacht in Høvik eintraf. Das Kind saß im Schlafanzug auf dem Sofa, dicht neben einer blonden Frau. Thea schaute die Fremde aus großen blauen Augen an. Sara fühlte sich nackt, als sie dastand, einfach unfähig, eine Sprache zu finden, in der sie der Kleinen erzählen könnte, dass von nun an sie, Sara, sich um sie kümmern würde.
Thea musterte die Tante eine Weile, dann rutschte sie vom Sofa und stapfte auf nackten Füßen zu ihr hin. »Hallo«, sagte sie leise und schaute auf. »Du bist Papas Schwester. Er hat genau solche Haare wie du. Nur kürzer natürlich. Irlin sagt, dass du jetzt bei mir wohnen wirst.«
Sara nickte vorsichtig.
»Du musst mich zur Schule bringen. Ich gehe in die 1 b auf der Høvik-Verk-Schule. Du weißt sicher den Weg nicht, aber den kann ich dir zeigen.«
Sara lächelte nur und nickte und nickte.
Die Kleine ähnelte ihrem Vater, nur war sie hellblond. Plötzlich legte sie Sara die Arme um die Taille und drückte so fest zu, dass beide fast das Gleichgewicht verloren hätten. »Du musst auf mich aufpassen«, flüsterte Thea. »Und wir werden nie, nie im Leben Auto fahren.«
Als Thea im Bett lag und Irlin ihr das Wichtigste im Haus gezeigt hatte und sich dann ins Gästezimmer zurückzog, blieb Sara noch lange wach. Erst um drei Uhr schlich sie sich nach oben. Die Tür zu Theas Zimmer stand offen, und Sara trat ganz dicht an das Bett heran. Die Kleine lag auf der Seite, hatte den Daumen locker im Mund und drückte
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