Kammerspiel: Der fünfte Fall für Rünz (German Edition)
Stufen bis zum Treppenabsatz
– drei – zwei – eins – und Pause. Alfonse Antolini beugte den Rumpf nach vorn, stützte
die Arme auf den Oberschenkeln ab. Er atmete flach und schnell. In seinem Sichtfeld
flimmerte es, als würden Tausende kleiner Ameisen auf seiner Netzhaut herumkrabbeln.
Sein Puls raste, auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Er konnte
keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nur nicht hinsetzen. Wenn er sich jetzt hinsetzte,
schaffte er es nicht mehr bis in den dritten Stock. Und wenn einer der Hausbewohner
ihn in diesem Zustand im Treppenhaus herumsitzen sah, dann gab es Gerede. Und Gerede
konnte er nicht brauchen.
Langsam ließen Schwindel und
Atemnot nach, er richtete sich vorsichtig wieder auf, mit dem Rücken an die
speckige Wand des Treppenhauses gelehnt. Die Sauerstoffsättigung in seinem Blut
stieg an, sein Gehirn begann wieder zu arbeiten. Zwei Monate zuvor hatte er den
Aufstieg noch ohne Pause geschafft. Langsam, aber ohne Zwischenstopp. Jetzt war
er so weit, dass er sich über jeden Treppenabsatz freute wie ein Polarforscher
über ein mit letzter Kraft erreichtes Basislager. Wenn der Leistungsverlust
weiter so voranschritt, war er in spätestens vier Wochen außerstande, einen
Patienten in seiner Praxis zu empfangen. Den Patienten zu empfangen.
Seinen letzten.
Er zog ein
Papiertaschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Einmal mehr versuchte er, seinem Berufsleben im Rückblick einen Sinn zu geben. Wie
vielen Analysanden hatte er in den vergangenen zwei Jahrzehnten helfen können, ihrer
Existenz wieder Positives abzugewinnen? Dreißig, vielleicht fünfunddreißig. Hatte
er einige von ihnen vor dem Suizid bewahren können? Ganz sicher. Aber es war keine
Aneinanderreihung von Erfolgserlebnissen gewesen. Rückschläge hatte er verkraften
müssen. Zwei seiner Analysanden hatten sich während der Behandlungsphase für den
Freitod entschieden. Verheerende Rückschläge, die ihn an den Rand seiner professionellen
und privaten Existenz gebracht hatten. Die Rückschläge hatten ihn Demut gelehrt.
Sie hatten aus einem forschen, selbstgewissen und erfolgsverwöhnten Junganalytiker
einen nachdenklichen, vorsichtigen Seelenarzt gemacht, der sich der Grenzen seiner
Möglichkeiten bewusst war.
Mit beiden
Händen den Treppenlauf umklammernd, nahm Antolini die nächsten zehn Stufen bis zum
zweiten Stockwerk in Angriff, verbrachte dabei fast eine viertel Minute auf jeder
Stufe. Er hatte ausreichend Zeit für den Aufstieg eingeplant. Trotzdem dachte er
darüber nach, in Zukunft die eine oder andere Nacht in der Praxis zu verbringen.
Sein schlaffer Herzmuskel versuchte wieder verzweifelt, sich auf den wachsenden
Sauerstoffbedarf einzustellen, und erhöhte mangels Pumpleistung die Pulsfrequenz.
Der Tag würde kommen, an dem Patient O ihn im Treppenhaus einholte, ihm bis zum
dritten Stock hinaufhalf und ihn in den Sessel setzte. Ein junger Mann half einem
alten Mann – keine große Sache. Aber es störte das Ritual; die Begrüßung an der
Praxistür, den gemeinsamen Gang in das Behandlungszimmer, die Inbeschlagnahme von
Couch und Sessel. Erst der feste rituelle Rahmen gab dem Patienten die Möglichkeit,
in diesen magischen fünfzig Minuten zwischen Begrüßung und Verabschiedung frei und
ohne innere Schranken zu assoziieren. Die Voraussetzung für seine Genesung – oder
für seinen Tod.
Antolinis
strapaziöse Ein-Mann-Expedition erreichte den zweiten Stock. Er nahm sich vor, die
Erholungspause so kurz wie möglich zu halten, um die beiden Mieter nicht auf sich
aufmerksam zu machen. Für den Fall, dass einer der beiden schon hinter dem Türspion
lauerte, zog er einige Kassenzettel aus der Innentasche seiner Weste und studierte
sie aufmerksam, den Oberkörper auf das Geländer gestützt. So wirkte er, als würde
er konzentriert die korrekte Addition der Einzelposten einer Einkaufstour kontrollieren.
Er schaute auf die Uhr. In zehn Minuten würde O eintreffen. O war immer pünktlich.
Bei vielen Patienten offenbarte sich in ständigen Verspätungen der unbewusste Widerstand
gegen die gemeinsame Arbeit. Nicht so bei O. Das machte die Sache nicht leichter
für Antolini. Denn er sollte nicht nur rechtzeitig oben sein, um O die Praxistür
zu öffnen. Er sollte dabei möglichst auch entspannt und ausgeruht wirken. Denn ein
erschöpft und übermüdet wirkender Analytiker konnte in einem Analysanden eine ganze
Kaskade von Projektionen auslösen, die mühsam
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