Kanada
drinnen saß. Es gab kein Schloss und keinen Riegel, so dass ich die Tür nur mit Hilfe eines Nagels und eines Stücks Bindedraht zuziehen und geschlossen halten konnte, wenn ich »auf dem Thron« hockte (der Ausdruck stammte von meinem Vater). Ich ging also nur auf den Abort, wenn Charley nicht in seinem Trailer war – oder spätnachts, aber dann mit Angst vor Schlangen –, und versuchte eher, im Leonard die Gästetoilette im ersten Stock zu benutzen.
Doch in Wirklichkeit erwiesen sich diese Befürchtungen Charley gegenüber, der eigentlich Charley Quentin hieß, wie ich irgendwann erfuhr, als grundlos. Wenn ich in der Nähe war, zeigte er sich meistens abgelenkt, so als beschäftigte und ärgerte ihn irgendetwas, das sich nicht in Ordnung bringen ließ. Allerdings habe ich nie erfahren, was das war, und auch nie danach gefragt. Er sagte oft, er hätte nicht geschlafen, was auch stimmte. Manchmal sah ich mitten in der Nacht aus dem Fenster – der Gesang der Kojoten weckte mich regelmäßig auf –, und jedes Mal war Licht in seinem Trailer, dann stellte ich mir vor, wie er drinnen wach herumlag und dem Klimpern seines Windspiels lauschte. Einmal sagte er, als Junge hätte er eine »schlimme Darminfektion« gehabt, die er bis heute nicht ganz losgeworden wäre und die ihn daran hinderte, ein erfülltes Leben zu führen. Manchmal sah ich ihn vor seinem Trailer beim Füttern der Vögel, die seine Skulpturen und silbernen Kreisel umschwirrten; deren kleine Plastikpropeller richtete er ständig nach dem Wind aus. Manchmal holte er einen Satz Eisenhanteln aus der Nissenhütte und hob mitten im Unkraut Gewichte, machte Kniebeugen und Bizepscurls. Oder er brachte eine Tasche voller hölzerner Golfschläger und einen Korb voller Bälle nach draußen. Dann setzte er die Bälle oben auf kleine Grasbüschel und hieb sie mit steifem Schlag einen nach dem anderen Richtung Highway und Bahngleise, wo sie auf den Asphalt prallten oder gegen die Seite des Silos knallten oder einfach irgendwo in den Feldern verschwanden. Er muss einen unendlichen Nachschub an Bällen gehabt haben, denn ich sah ihn nie auch nur einen wieder einsammeln.
Die meiste Zeit aber beschäftigte er sich widerstrebend damit, mir beizubringen, was ich tun sollte, wenn die Sportsfreunde da waren. Das hatte sich natürlich Arthur Remlinger ausgedacht, damit ich beschäftigt war, bis er sich überlegt hatte, was er sonst mit mir anfangen sollte. Ich wollte das gern lernen, denn bislang war es das Einzige, was ich lernen konnte, und das machte mich missmutig. Ich hatte Charley gefragt, wie es denn mit der Schule aussehe – ob ich dahin dürfe, denn jeden Morgen rauschte ein gelber Schulbus Richtung Westen durch Partreau, er trug die Aufschrift SCHULE LEADER – EINHEIT NR. 2 auf der Seite, wie ein ganz normaler amerikanischer Schulbus. Jeden Nachmittag rumpelte er zurück nach Fort Royal, hinter den Fenstern konnte ich die Gesichter der Schüler erkennen. Oft überholte er mich, während ich auf meinem alten Rad am Straßenrand zur Arbeit oder zurück strampelte. Niemand, der mich sah, winkte oder ließ sich anderweitig etwas anmerken, einmal sah ich allerdings das hübsche blonde Mormonenmädchen mit den Glubschaugen, dessen Mutter mich auf der Straße angesprochen hatte. Anscheinend erkannte sie mich nicht wieder. Und obwohl ich mich allmählich schon besser in meiner Haut fühlte, mich besser eingelebt hatte (mit Arthur Remlingers Worten), überfiel mich jedes Mal, wenn der Bus an mir vorbeiächzte, wieder das Gefühl, abgehängt worden zu sein, mit großer Wahrscheinlichkeit nie mehr in einem Klassenzimmer zu sitzen und all das Wissen zu erwerben, das ich mir erhofft hatte.
Als ich Charley nach der Schule fragte, ignorierte er mich. Von Mrs Gedins hatte ich erfahren – bei einem der wenigen Male, als sie das Wort an mich richtete –, dass es am Highway Richtung Leader in dem Städtchen Birdtail, Saskatchewan, eine katholische Schule für gefallene Mädchen gab, nur ein paar Kilometer entfernt. Ich dachte, vielleicht könnte ich da samstags mit dem Fahrrad hinfahren und am Unterricht teilnehmen, weil sie gesagt hatte, der gehe die ganze Woche. Aber als ich Charley gegenüber diese Schule erwähnte, sagte er, nur kanadische Kinder dürften auf kanadische Schulen gehen und es gebe gar keinen Grund für mich, Kanadier werden zu wollen. Das war an einem der letzten warmen Tage mit blauem Himmel gewesen, als eine lange milchige Wolkenkette, möglicherweise
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