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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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wahrscheinlich auch gar nichts wusste. Er legte das Fernglas neben seinem Stuhl ab. Zweihundert Meter unter uns war die Luft erfüllt von schwarz-weißen Gänsen und ihren scharfen Rufen, sie rotteten sich zusammen und flatterten und rangelten und flogen auf und ließen sich wieder nieder. »In sechs Wochen wirst du dich hier weit weg wünschen, so viel ist sicher«, sagte er. »Dann wird es wie Sibirien. Und der Norden ist die falsche Fluchtrichtung, wenn du mich fragst.«
    »Warum redet Mr Remlinger nie mit mir?«, fragte ich, denn das interessierte mich eigentlich.
    Charley hob das Gewehr von den Knien und legte behutsam an, immer noch auf seinem Stuhl sitzend. Ich vermutete, dass er nur durchs Visier sah – das machte er oft. »Ich misch mich da nicht ein«, sagte er.
    Er lehnte sich gegen die elastischen Nylonfäden, um eine stabilere Position zu erreichen, und zielte auf einen der beiden Kojoten, die wir beobachtet hatten. Er war hundert Meter weg, einen kahlen Abhang heruntertrottend, an dem keine Gerste wuchs, auf einen zweiten Hügel zu, um den er unbemerkt herumschleichen konnte, näher an die Gänse heran. Der andere Kojote stand weiter weg, neben einem Haufen Steine, die vom Umpflügen des Feldes dort liegen geblieben waren. Der zweite Kojote beobachtete reglos und stumm den ersten. Ich sagte keinen Ton.
    Charley senkte das Gewehr, ließ den Blick in die Ferne schweifen, atmete tief ein und wieder aus, biss in seinen Zigarettenstummel, spähte noch mal durchs Visier, schob sich selbstbewusst auf dem Stuhl zurück, spannte, atmete noch mal ein und durch die Nase wieder aus, spuckte die Zigarette beiseite, holte erneut Luft und drückte einmal ab. Ohrenbetäubend. Ich saß direkt neben ihm.
    Die Kugel schlug hinter dem ersten Kojoten ein. Obwohl wir ziemlich weit weg waren, sah ich eine Wolke Staub und Spreu auffliegen. Der zweite Kojote rannte sofort los, so schnell, dass die kräftigen Hinterbeine seitwärts mitzulaufen schienen. Er blickte zurück und schien gleichzeitig vorwärts und seitwärts laufen zu können. Die Gänseschar unter uns gab ein mächtiges, durchdringendes, aufgeschrecktes Kreischen von sich, das die Luft erfüllte. In großem Aufruhr flogen sie von dem stoppligen Untergrund auf, alle und sofort, wenn auch nicht blitzschnell – eintausend Gänse oder mehr (eigentlich nicht zu zählen) schlugen mit den Flügeln und riefen und erhoben sich in die Luft und entfernten sich in einem rauschenden Getöse.
    Der Kojote, auf den Charley geschossen hatte, hielt inne, um die Gänse zu betrachten, die aufflogen und umeinander und übereinander kreiselten. Er drehte sich in unsere Richtung – wir mussten für ihn nur zwei unbestimmte Punkte sein, dazu noch Charleys Truck hundert Meter hinter uns. Diese Hinweise hatte der Kojote nicht zusammengefügt – die Punkte, das Knallen eines Schusses, den aufgewirbelten Staub, das überraschende Auffliegen der Gänse. Er drehte sich nach der großen wirbelnden Luftsäule um, die ihn umgab, kratzte sich mit der linken Hinterpfote hinterm linken Ohr, schüttelte sich, warf uns noch einen Blick zu und trottete dann dem ersten Kojoten nach – bestimmt dahin, dachte ich, wo noch weitere Gänse waren.
    »Den Teufelsköter seh ich wieder, verlass dich drauf«, sagte Charley, als wäre es egal, dass er den Kojoten verfehlt hatte, nur eine Übung. Er holte die leere Patrone heraus und griff nach seiner Zigarette, die qualmend am Boden lag. »Die Welt hat ihn auf der Liste – in meiner Person«, sagte er. »Der glaubt, er wäre in Sicherheit. Sein Tod und mein Tod sind Spielgefährten. Das ist lustig. Ich weiß es, er nicht.«
    »Was ist mit Mr Remlinger?«, fragte ich.
    »Ich misch mich da nicht ein. Hab ich doch schon gesagt.« Charley steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und schaute verärgert drein. »Er ist komisch. Es gibt immer einen, der uns nicht verdient hat, oder?«
    Ich verstand nicht, was er damit meinte, und fragte nicht nach. In Charley Quarters’ Nähe fühlte ich mich immer unwohl. Irgendwie lief seine Verbindung zum Leben zu sehr über den Tod. Ich nahm das als Zeichen dafür, dass ihm nur an wenigem ernsthaft lag. Hätte ich ihm die Gelegenheit gegeben, mir etwas davon zu zeigen oder zu erzählen (was ich beileibe nicht vorhatte), er hätte es getan. Aber dann hätte ich am Ende nur das erfahren und gelernt.

47
    An Tagen, wenn Charley mich nicht mit auf die Prärie nahm, um mich auf die Gänsejagd vorzubereiten, und wenn ich nicht

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