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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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der erste Wintersturm, über Alberta hing, also ungefähr 75 Kilometer entfernt. Da saßen Charley und ich auf zwei seiner Alu-Klappstühle auf einer Felsnase und beobachteten unter uns eine große Gänseschar, die sich auf einem Gerstenfeld nahe des South Saskatchewan River niedergelassen hatte. Immer mehr Vögel kamen im Sinkflug heran, landeten und suchten sich eine Stelle zum Fressen. Die Jagdsaison begann erst in einer Woche. Wir waren dort, um zu erkunden, wie sie sich verhielten, welche Felder sie bevorzugten, und festzustellen, wie viele Vögel überhaupt da waren, wo Wasser auf den Feldern stand und wo sie ausgetrocknet waren, wo sich am besten Gruben zum Schießen anlegen ließen. Auch wenn ich mich in Charleys Nähe unwohl fühlte, war ich durchaus bereit, mich von ihm beeinflussen zu lassen, von seinem Wissen und dem, was er an mich weitergeben konnte, denn vom Gänsejagen, von Jägern oder vom Schießen hatte ich keine Ahnung.
    Charley trug seine schwarzen Haare offen und hatte ein ärmelloses Unterhemd an, das seine kurzen Arme mit den knotigen Muskeln bloßlegte und seine Hände und den großen Brustkasten mächtiger wirken ließ. Er war auf beiden Unterarmen tätowiert – auf der einen Seite war eine lächelnde Frau mit üppiger Filmstar-Mähne (wie Charleys) zu sehen, darunter stand MA MÈRE . Auf der anderen befand sich ein blauer Büffelkopf mit roten Glotzaugen, da war die Bedeutung weniger offensichtlich. Charleys altes abgenutztes Gewehr lag quer über seinen Knien, zwischen seinen Zähnen klemmte eine Zigarette, und er hielt das Fernglas auf die lange Wolke aus Gänsen, die in der Ferne über dem funkelnden Fluss schwebte, außerdem auf ein Kojotenpaar, das die Gänse von einem Hügel aus beobachtete und langsam näher an sie heranrückte.
    »Kanadier sind ausgehöhlt«, sagte er, nachdem er verkündet hatte, ich sollte keiner werden – was ich gar nicht erwogen hatte. Ich wollte doch nur zur Schule gehen und nicht zurückbleiben. Ich dachte, an kanadischen Schulen würde dasselbe unterrichtet wie in Amerika. Die Kinder im Bus sahen alle aus wie ich. Sie sprachen Englisch, hatten Eltern und trugen dieselben Kleider. »Amerikaner sind dagegen alle voll«, sagte Charley. »Voll Selbstüberschätzung und Heimtücke und Zerstörung.« Er hielt das Fernglas weiter fest an die Augen gepresst, und von seiner Zigarette stiegen Rauchkringel in die warme Luft. »Deine Eltern sind Bankräuber, nicht wahr?«
    Ich bedauerte sehr, dass er davon wusste. Offensichtlich hatte er das von Arthur Remlinger. Aber es ließ sich nicht leugnen. Allerdings fand ich nicht richtig, was er von den Amerikanern sagte, auch wenn meine Eltern Bankräuber waren.
    »Ja«, sagte ich widerstrebend.
    »So schlimm finde ich das gar nicht.« Er senkte das Fernglas und sah mich mit aufgerissenen Augen an, was seinen Kopf mit den übergroßen Wangenknochen, den dichten Augenbrauen und dem mächtigen Unterkiefer grotesk wirken ließ. An diesem Tag trug er rosa Lippenstift, aber kein Augenmakeup. In einem seiner dunkelblauen Augen – dem linken – hatte er einen ständigen Bluterguss. Ich war mir nicht sicher, ob er mit diesem Auge überhaupt sehen konnte. »Meine Eltern haben in einem Haus in Lac La Biche in Alberta gelebt, auf dem bloßen Erdboden, und sie sind beide an Tuberkulose gestorben«, sagte er. »Ein Banküberfall, das wäre für sie ein großer Schritt nach oben gewesen.«
    »Ich finde es schlimm«, sagte ich, bezogen darauf, dass meine Eltern Bankräuber gewesen waren, nicht auf den Tod seiner Eltern. Was mit unserer Familie passiert war, schien sehr weit zurückzuliegen, dabei hatten Berner und ich sie erst vor wenigen Wochen im Gefängnis von Great Falls besucht.
    Charley hustete in seine Hand und spuckte eine Masse aus, die er inspizierte und dann wegschleuderte. »Wenn ich nach da unten gehe, fährt etwas in mich«, sagte er. »Und wenn ich wieder hier hochkomme, verlässt es mich wieder. Wobei ich gar nicht mehr nach da unten kann.« Er hatte mir erzählt, dass er früher in seinem Leben ausgiebig in Amerika herumgereist war – Las Vegas, Kalifornien, Texas. Aber dann war einiges geschehen – er führte es nicht näher aus –, und so konnte er nicht wieder hin. »Hier oben hat sich’s ausgespielt. Die glauben immer, die Regierung würde sie bescheißen. Aber das stimmt gar nicht. Das fliegt hier bald alles in die Luft.« Ich nahm an, er meinte nur die Gegend, wo wir waren, nicht ganz Kanada, wovon er

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