Kanada
regengesättigten Winden und einfliegenden Gänsen – ist die Zeit nur eine erfundene Größe und verliert an Bedeutung, ganz zu Recht.
In diesen Tagen der ersten Kälte sah ich Arthur Remlinger gelegentlich in seinem Dreitürer-Buick auf dem Highway westwärts rasen – wohin, wusste ich natürlich nicht. Oft war Florence auf dem Beifahrersitz zu erkennen. Vielleicht wollten sie nach Medicine Hat, in eine Stadt, deren Name mich faszinierte. Oder ich sah seinen Wagen neben Charleys Trailer stehen, dann berieten sich die beiden – oft stürmisch. Nach vier Wochen hatte ich immer noch keinen ernstzunehmenden Kontakt zu Arthur Remlinger. Ich wünschte ihn mir nicht als besten Freund, das nicht. Dafür war er zu alt. Aber es wäre schön gewesen, er hätte mehr von mir wissen wollen und ich hätte mehr über ihn erfahren, warum er in Fort Royal lebte, wie man aufs College kam, was er so unternahm – derlei Dinge hatte ich über meine Eltern gewusst, und ich glaubte, dass man auf diese Weise etwas lernte. Mildred hatte mir versichert, ich würde ihn mögen und etwas von ihm lernen. Aber sein Name – den ich bei ihm merkwürdiger fand als bei Mildred – war so ungefähr alles, was ich kannte; das und wie er sich kleidete und redete, von den paar Sätzen, die er mit mir gesprochen hatte. Und dass er Amerikaner war, aus Michigan.
Das alles bescherte mir ein ungutes Gefühl ihm gegenüber, ein unangenehmes Warten, auf uns beide bezogen. Mildred hatte mir auch gesagt, ich solle mich in Kanada auf die Gegenwart konzentrieren. Aber wenn man damit einmal anfängt, meint man in tagtäglichen Ereignissen Muster zu erkennen, und es besteht Gefahr, dass einem die Fantasie durchgeht und man sich lauter Dinge einbildet. Ich verband mittlerweile mit dem wenigen, das ich von Arthur Remlinger wusste, die Idee, er hänge in irgendeiner »Sache« drin, ihm müsse eine Bedeutung beigemessen werden, die im Verborgenen lag und sich auch nicht zu erkennen geben wollte, was ihn unvorhersehbar und ungewöhnlich machte. Wobei ich nach der Erfahrung, meine Eltern im Gefängnis zu sehen, bestimmt dazu neigte, nach dem Unguten auch dort zu suchen, wo es allem Anschein nach nichts Schlimmes zu finden gab.
Es gibt solche Menschen auf der Welt – Menschen, mit denen etwas nicht stimmt, was sich vertuschen, aber nicht leugnen lässt, was sie beherrscht. Bei Erwachsenen kannte ich das bislang erst von meinen Eltern. Sie waren in keiner Weise außergewöhnlich oder bedeutend gewesen, sondern kleine Leute und als solche kaum auffallend. Aber bei ihnen stimmte etwas nicht. Nachdem ich es an ihnen erkannt und in Ruhe entschieden hatte, was nun alles stimmig war und was nicht, konnte ich nicht anders, ich sah von da an überall, wo ich hinschaute, Möglichkeiten dafür, dass etwas nicht stimmte. Das gehört zu einer Funktion meines Innenlebens, die ich »umgekehrtes Denken« nenne und von der ich mich seit meiner Jugend, als ich mich mit gutem Grund nach ihr richtete, nie mehr ganz frei machen konnte.
Einmal, als Mrs Gedins gerade in der Hotelküche zu tun hatte, bekam ich einen Schlüssel und sollte Arthur Remlingers Räume im zweiten Stock saubermachen – sein Bett machen, die Toilette putzen, seine Handtücher und Waschlappen auswechseln, die Oberflächen wischen, wo der Staub aus den alten Zinnpaneelen an der Decke und durch die Fensterrahmen gekommen war.
Er hatte nur drei Zimmer, überraschend kleine Zimmer für einen Mann mit vielen Gegenständen, der nichts aufräumte, bevor er wegging. Ich bemühte mich nicht um Diskretion und betrachtete alles, worauf mein Auge fiel, genauer, genauer, als ich gedurft hätte, denn ich war überzeugt davon, dass ich Arthur Remlinger wohl nie besser kennenlernen würde als in jenem Moment. So wenig zu wissen und mehr wissen zu wollen, das führte zu besagtem unguten Gefühl, und so etwas kann ebenso Neugier erzeugen wie Misstrauen.
An den dunklen, holzverschalten Wänden von Arthur Remlingers Schlafzimmer, dem kleinen Wohnzimmer und Bad, düster wegen der geschlossenen Jalousien und der Tischlampen als einziger Beleuchtung, befanden sich verschiedene ungewöhnliche Dinge. Eine große vergilbte Landkarte der Vereinigten Staaten mit weißen Reißzwecken an diversen Stellen – Detroit, Cleveland, Omaha und Seattle. Worauf sie hinwiesen, war nicht erklärt. Neben der Schlafzimmertür hing ein gerahmtes Ölgemälde, darauf – ich erkannte es wieder – das Silo von Partreau, dahinter erstreckte sich die
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