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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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können.
    Florence saß malend mitten auf der Manitoba Street. Auf ihrem Bild war nichts weiter zu sehen als der Blick direkt an dem leeren Postamt und ein paar eingestürzten Häusern vorbei auf die Rückseite der Ladenzeile, der früheren Lebensader von Partreau, die ich schon erkundet hatte. Den Himmel über den Gebäuden hatte sie noch nicht gemalt, dort war alles noch leere Leinwand. Das Silo und die Weizenfelder, die sich jenseits der Bahngleise erhoben und zum Horizont hin ausdehnten, fehlten auch noch. Ich konnte nicht nachvollziehen, wieso das etwas Malenswertes sein sollte, es lag doch da und jeder konnte es jederzeit anschauen – anders als die Niagarafälle auf dem Bild von Frederic Church oder die Blumengestecke, die mein Vater nach Zahlen malte. Aber es gefiel mir, und das hätte ich auch sagen sollen, um höflich zu sein. Stattdessen sagte ich – und wünschte sofort, mir wäre etwas Besseres eingefallen: »Warum malen Sie das?«
    Das trockene Gestrüpp wiegte sich im Wind. Der Tag wurde langsam grau, während eine Wetterfront den blauen Himmel Richtung Osten abschnitt. Charleys Kreiselapparate wirbelten wie wild. Ein wogender Gänsestrich flog zügig von Norden heran und fing die letzten Sonnenstrahlen ein. Kein so guter Tag zum Malen, schien mir.
    »Ach«, sagte Florence, »ich male einfach, was mir gefällt, weißt du? Dinge, die sonst niemals zu etwas Schönem würden.« Sie hielt ihre hölzerne Farbpalette mit dem linken Daumen, den sie durch ein Loch am Rand gesteckt hatte. Kleckse verschiedener Farben waren darauf ausgedrückt worden. Mit der Spitze ihres Pinsels vermischte Florence immer einen oder zwei davon und plazierte die Farbe dann direkt auf die Leinwand. Was sie malte, entsprach exakt dem, was ich sah – das war dann wohl der Stil der American Nighthawks, zugleich wundersam und merkwürdig, in meinen Augen. Außerdem verstand ich nicht, was sie damit meinte, dass das Postamt auf ihrem Bild zu etwas Schönem würde. Da es genau wie das Postamt aussah, das ich vor mir hatte, war es überhaupt nicht schön. »Ich war nie eine richtige Malerin«, sagte Florence. »Meine Schwester Dinah-Lor, die war Malerin. Bevor sie an gebrochenem Herzen starb. Mein Vater war auch Maler – in der Tradition der Primitiven, denn eigentlich war er ein Eisblockschneider aus Souris, Manitoba. Vielleicht male ich deswegen hier mitten auf der South Manitoba Street.« Sie wandte mir ihr rundes Gesicht zu. Ihre schmalen braunen Augen funkelten, und ihre kräftigen Hände mit den kurzen Fingern waren rot vom eisigen Wind. »Du weißt nicht mal, wo auf der Welt Manitoba überhaupt liegt, was, Dell? Oder?« Sie amüsierte sich, wie sonst wohl auch.
    »Ich weiß, was es ist«, sagte ich. Eine Provinz. Ich freute mich, dass sie meinen Namen kannte. Aber ich wusste über Kanada nur, was mir Mildred und Charley erzählt hatten. Florence hatte gesagt, ich sei größer geworden. Das hätte mich ja gefreut, aber ich bezweifelte, dass ein Monat dafür ausreichte. Seit ich hier war, hatte ich mich eher kleiner gefühlt.
    »Wahrscheinlich weißt du nicht mal, was Saskatchewan bedeutet«, sagte Florence mit einem Blick über ihre Palette auf das Bild.
    »Stimmt.«
    »Na. Dann erzähl ich dir’s doch gern. Es bedeutet ›der schnell fließende Fluss‹, davon gibt es hier, wo wir leben, nicht sehr viele. Das Wort kommt aus der Sprache der Cree, die ich persönlich aber nicht beherrsche. Du brauchst nur eine Landkarte und ein Geschichtsbuch. Dann wirst du sehen, dass Manitoba, wo ich geboren wurde, gar nicht weit von hier ist – jedenfalls vom Sputnik aus gesehen.« Sie sprach »Sputnik« anders aus, als ich es aus dem Radio kannte, nicht mit kurzem »a«, sondern mit langem »u«, wie in »Mut« oder in »Roosevelt«, so wie Rudy es ausgesprochen hatte. Spuutnik. Sie fuhr fort, auf ihrem Bild die weiße Front des verfallenen Postamts dunkler zu machen, dem unübersehbaren derzeitigen Zustand ähnlicher. »Abgesehen davon«, fügte sie hinzu, »bin ich gern an der frischen Luft. Und natürlich langweile ich mich. Früher bin ich immer durch diese kleine Stadt gefahren, wenn ich aus The Hat kam, um mich mit Arthur zu treffen. Als wir noch frisch verliebt waren. Da wohnten noch Leute in ein, zwei Häusern. Irgendwie hat mich der Ort einfach gerufen.« Sie runzelte die Stirn beim Blick auf ihr Bild. »Ist dir das schon mal passiert? Du hörst andauernd irgendein Wort, und auf einmal nimmt es einen anderen Sinn an? Mir passiert

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