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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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zu läuten begonnen. Ich saß schon nicht mehr auf meinem alten Fahrrad, war aber noch nicht heruntergefallen. Marjorie hielt meinen Arm weiter in ihrem brennenden Griff, mit ausdruckslosem Gesicht. Ich zwängte die Finger meiner linken Hand unter ihre zähen Krallen, wo meine Haut schon die ersten Spuren aufwies. Erst bog ich einen ihrer Finger hoch, dann einen zweiten. Ich wollte ihr nicht wehtun. Dann war ich frei. Ich taumelte rückwärts gegen mein Fahrrad und fiel auf den Schotter, dass mir die Luft wegblieb.
    »Wer bist du?« Die Nonne stierte mich durch die Gitterstäbe an. Ihr blankgeschrubbtes, wutentbranntes Gesicht glänzte. Sie hielt Marjories Schultern jetzt fest gepackt. Marjorie lächelte auf mich herunter, als hätte ich etwas Lustiges gemacht. »Wie heißt du?«, fragte die Nonne.
    Ich wollte nichts über mich preisgeben, begann mich hochzustemmen und mein Fahrrad aufzustellen.
    »Er heißt Dell«, sagte Marjorie. »Das ist ein Affenname.«
    »Warum bist du hier?«, fragte die Nonne, die Marjorie immer noch nicht losließ.
    »Ich wollte doch nur zur Schule gehen.« Ich fühlte mich lächerlich, so halb kniend, klein gemacht, nur weil ich hier war.
    »Die ist nicht für dich gedacht.« Ihr Akzent klang anders als alles, was ich bisher gehört hatte. Sie sprach schnell und spuckte die Worte in meine Richtung. Ihre dunklen stumpfen Augen sprühten Wut – Wut auf mich. »Wo wohnst du?«
    »In Partreau«, sagte ich. »Und ich arbeite in Fort Royal.« Alle Mädchen auf dem Schulhof gingen jetzt auf die Eingangsstufen zu und stellten sich in einer Reihe auf, um hineinzugehen. Eine weitere Nonne – klein und schwerfällig – stand oben an der Treppe, die Hände vor dem Bauch gefaltet. Marjorie belächelte mich immer noch von oben herab.
    »Ich wollte dich küssen«, sagte sie träumerisch zu mir. »Aber du wolltest mich nicht küssen, oder?«
    »Geh wieder rein«, sagte die Nonne, ließ Marjories Schultern los und schubste sie weg. Marjorie warf den Kopf in den Nacken, drehte sich dramatisch um und lachte laut. Dann beeilte sie sich, ihre Freundin einzuholen.
    »Entschuldigung«, sagte ich.
    »Ich will dich hier nie wieder sehen«, sagte die junge Nonne durchs Tor. Sie schüttelte den Kopf, schob ihr Gesicht nach vorn und starrte mich durchdringend an, um sicherzugehen, dass ich sie auch verstanden hatte. »Wenn du wieder herkommst, rufe ich die Polizei. Die schafft dich hier weg. Merk dir das.«
    »Ja«, sagte ich. »Entschuldigung.« Ich wollte noch etwas sagen, aber mir fiel nichts ein. Ich kannte das Wort »desolat« nicht, aber so fühlte ich mich. Die junge Nonne ging schon mit wehendem Gewand davon. Ich hatte mein Fahrrad wieder aufgestellt, wendete und begann hügelaufwärts zu strampeln, gegen den Wind, zurück Richtung Highway und Partreau.

50
    Florence La Blanc fuhr in ihrem kleinen rosa Metropolitan nach Partreau raus und hinterließ einen dicken gepolsterten Umschlag an der Tür zu meinem Schuppen. Er kam aus Amerika, und unten stand, in einer Handschrift, die ich nicht kannte, draufgekritzelt: An Dell Parsons weitergeben . Meine Fahrradfahrt zur Schule für gefallene Mädchen lag erst einige Tage zurück, und in derselben Woche sollte ich nach Fort Royal umziehen, weil sich noch mehr Sportsfreunde angekündigt hatten. Charley hatte Anweisung bekommen, einen von ihnen auf der anderen Pritsche in meinem Schuppen unterzubringen, und man (genauer gesagt Florence, wie ich später erfuhr) hielt es für »ungut«, wenn ich allein mit einem erwachsenen Fremden in einem Raum schliefe. Dazu hatte Charley eine spöttische Grimasse gezogen und gesagt, die alten betrunkenen Gänsejäger würden nach Mitternacht schon mal »kuschelig«. Im zweiten Stock des Leonard gab es eine winzige »Mönchs-Mopp-Kammer«, nicht weit von Remlingers Räumen auf demselben Flur. In diesem Verschlag sollte ich schlafen, das Bad eine Etage drunter zusammen mit den Bohrarbeitern und Eisenbahnern benutzen, außerdem bekam ich einen weißen Emailtopf für mitten in der Nacht. Charley würde mich zu den Gänsepflichten mit seinem Truck abholen. Es wurde immer kälter und windiger, so dass ich ganz froh war, nicht mehr in die Stadt radeln und in meiner zugigen Hütte schlafen zu müssen. So hatte ich dann auch mehr Zeit, um für die Sportsfreunde, sobald das Ausweiden der Gänse erledigt war, gegen ein Trinkgeld Botengänge zu machen und abends in der Bar dabei zu sein. Wenn ich beschäftigt und nicht so viel allein war, fiel

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