Kanada
es mir auch leichter, nicht an meine Eltern und die Schule und Berner zu denken.
Bislang hatte ich wenig Kontakt mit Florence La Blanc gehabt. Charley hatte mir erzählt, sie besitze einen Laden für Grußkarten in The Hat und sei verwitwet und früher mal eine Dorfschönheit gewesen, die nicht mit ihren Reizen geizte, während ihr Mann 1941 Hongkong verteidigte. Sie pflegte ihre betagte Mutter. Aber sie war auch Künstlerin, trank gerne ein Glas im Hotel und spielte im Spielzimmer hinter der Bar Karten, in der »Glücksspielhöhle«, wie sie es nannte, wo sie eigentlich gar keinen Zutritt hatte. Alle mochten sie. Ihr Arrangement mit Arthur Remlinger kam ihr zupass, denn er hatte Geld, gute Manieren und ein ansprechendes Aussehen, auch wenn er geheimniskrämerisch war und Amerikaner und jünger als sie. Wenn sie ihn leid wurde, fuhr sie zurück nach The Hat.
Als ich in meinem Schuppen wohnte, sah ich Florence mit ihrer Staffelei regelmäßig an verschiedenen Schauplätzen in Partreau – mal auf der Rückseite des Städtchens mit Blick in die Erbensträucher, hinter denen die Ölpumpe und die weißen Bienenstöcke aufschienen. Ein andermal stand sie direkt auf meiner Straße und malte Charleys Trailer und seine Nissenhütte. Mir war streng verboten, in Arthur Remlingers Privatsphäre einzudringen. Aber Florence, die sich mir gegenüber freundlich verhalten hatte, auch aus einigem Abstand, war nicht eigens erwähnt worden, und ich fand, ich dürfe mit ihr reden. Zudem kam doch nie jemand nach Partreau. An einem normalen Tag redete ich mit kaum einem Menschen. Und ich glaubte, sie hätte nichts dagegen. Als ich sie also in einem braunen Gewand und mit einem weichen schwarzen Stoffhut auf ihrem hölzernen Hocker sitzen sah, die Straße vor dem verlassenen Postamt von Partreau malend, ging ich hinüber zu ihr, quer durch die überwucherten und voll Schrott liegenden Grundstücke, wo früher Häuser gestanden hatten – ich wollte sehen, wie das jemand machte, ein echtes Bild zu malen, nicht einfach Malen nach Zahlen; dass das keine echte Malerei oder gar Kunst war, wusste ich auch schon.
Als Florence mich kommen sah – es war der Nachmittag, an dem sie mir den gepolsterten Umschlag gebracht hatte –, hielt sie ihren langen Pinsel hoch und schwenkte ihn hin und her wie ein Metronom seinen Zeiger. Das nahm ich als Zeichen, dass sie mich wiedererkannt hatte – obwohl sie die Augen nicht von ihrem Bild ließ, als sei das wichtig.
»Ich habe dir ein geheimnisvolles Päckchen hingelegt«, sagte sie, ohne mich anzusehen. »Du bist ja viel größer als noch vor einem Monat. Kann das sein?« Nun spähte sie mit einem Lächeln zu mir. Sie war keine große Frau und hatte einen hübschen, offenen, breit lächelnden Mund und eine heisere Stimme, die einen annehmen ließen, dass sie sich gern amüsierte. Ich konnte mir vorstellen, wie sie lachte. Manchmal tanzte sie mit Arthur Remlinger in der Bar zu der Musik aus der Jukebox – das hatte ich schon beobachtet. Dann hielt sie ihn, der einen seiner guten Anzüge trug, steif auf Armeslänge von sich weg, machte ein ernstes Gesicht und vollführte dann ein paar unbeholfene Schritte im Karree, die die anderen Gäste der Bar zum Lachen brachten und sie auch. Und sie spielte ja auch gern Karten in der »Glücksspielhöhle«, wo ich selten hinging. Ihre kurzen Locken waren schon graumeliert, und ihre Hosen hatten einiges zu tragen, wie mein Vater von manchen Frauen zu sagen pflegte. Sie muss in den Vierzigern gewesen sein, aber als junge, schlanke, draufgängerische Frau, deren Mann im Krieg kämpfte, war sie unübersehbar noch viel schöner gewesen. Auf ihren Wangen zeigten sich kleine Äderchen, Zeichen für ein schweres Leben, wie ich wusste, und wenn sie lächelte, verengten sich ihre funkelnden Augen, bis sie fast nicht mehr sichtbar waren. Aus meiner Sicht passte sie nicht zu Arthur Remlinger, aber ich konnte mir vorstellen, sie zu mögen. Und ich war glücklich, dass sie schon vor Wochen Notiz von mir genommen hatte.
Ich stand seitlich hinter Florence, um direkt beobachten zu können, was sie gerade tat. Ich hatte bisher nur das Gemälde vom Silo in Arthur Remlingers Räumen gesehen, ohne etwas von der »Nighthawk-Schule« oder von Edward Hopper zu wissen – oder gar, wie ein Mensch etwas wiedererkennbar darstellen konnte, nur mit dem, was aus Farbtuben herauskam. Ich stellte mir vor, man müsse wohl Augenübungen machen, wie mein Vater, um alles ganz genau sehen zu
Weitere Kostenlose Bücher