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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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nicht sehr schnell. Berner wachse viel schneller – was mir auch aufgefallen war und was meine Mutter als ganz natürlich bezeichnete. Ich könne meine Kleider vom letzten Jahr noch ein paar Monate tragen. Ich hatte nicht gerade das Gefühl, mit den mir wichtigen Angelegenheiten durchzudringen.
    Als wir wieder vor unserem Haus standen, waren die Türen zur Lutheranerkirche weit offen, und drinnen war einiges los. Meine Mutter sah durch den Bogen der sich bewegenden Äste in die windgepeitschten Bäume hoch und bemerkte, die Luft habe jetzt so eine kalte Schärfe (die ich gar nicht spürte). Sie bedauerte das. Bald würden wir den ersten Schnee auf den westlichen Gipfeln sehen. Und der Herbst würde über uns kommen, bevor wir es merkten.
    Als wir ins Haus kamen, machte meine Mutter Tee und ein Salamisandwich, dann ging sie nach draußen auf die vordere Veranda in die windige Sonne und las die Zeitung. Sie hatte das große Stromberg-Carlson im Wohnzimmer angestellt, was ungewöhnlich war. Sie hielt Ausschau nach Meldungen über ihren Bankraub und wollte wissen, ob die Nachricht es schon bis Great Falls geschafft hatte – aber das wusste ich damals nicht. Später am Tag blätterte ich in der Zeitung, um herauszufinden, wann der Jahrmarkt schließen würde. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein Raubüberfall erwähnt worden wäre. Nichts von alldem war bislang in meinem Leben angekommen.
    Mir fiel aber sehr genau auf, dass die Indianer nicht mehr an unserem Haus vorbeifuhren und dabei hasserfüllt zu uns herüberstarrten. Auch das Telefon klingelte nicht mehr. An jenem Morgen kam zwei- oder dreimal ein schwarz-weißes Polizeiauto vorbei, und ich weiß, dass meine Mutter es sah. In meiner Wahrnehmung war alles in Ordnung. Da war nur so eine Empfindung, die ich nicht hätte beschreiben können, nämlich dass sich rings um mich etwas in Bewegung setzte. An der Oberfläche des Lebens war nichts zu sehen, und nur dort kannte ich mich aus. Kinder in Familien haben diese Empfindung für Bewegung. Sie kann dafür stehen, dass sich jemand um sie kümmert; dass die Dinge unmerklich in Schuss gehalten werden und nichts Schlimmes passieren wird. Oder sie steht für etwas anderes. Diese Empfindung hat man, wenn man in einem guten Sinne erzogen wird – was Berner und ich von uns annahmen.
    Mittags war unser Vater immer noch nicht zurück, und meine Mutter machte sich fertig, um irgendwo hinzugehen – was auch noch nie an einem Samstag passiert war. Sie zog das Kostüm an, das sie manchmal in der Schule trug, aus dicker grüner Wolle mit großen, blassen rosa Karos, keine Sommerkleidung. Dazu Nylonstrumpfhosen und schwarze Schuhe mit höheren Absätzen. Während sie so gekleidet im Haus umherlief und ihre Handtasche suchte, wirkte sie steif, als sei ihr unbehaglich. Ihr Kostüm schien zu kratzen, und ihre Schuhe machten laute Geräusche auf dem Boden. Sie hatte ihr Haar vor dem Badezimmerspiegel auftoupiert, bis es schwammähnlich aussah und ihre Gesichtszüge klein machte, fast versteckte, was sie wohl hatte erreichen wollen. Als Berner sie sah, meinte sie nur: »Ich weiß Bescheid«, ging zurück in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür.
    Ich stand im Wohnzimmer und fragte meine Mutter, wo sie hin wolle. Ich hatte immer noch dieses Gefühl, dass um mich herum etwas in Bewegung kam. Die Regenwolken waren schon wieder weitergezogen, wie meistens. Der Tag war schwül geworden, grell und von stählerner Hitze. Meine Mutter sagte, ihre Freundin Mildred Remlinger würde sie abholen – die Krankenschwester der Schule, wo sie unterrichtete. Sie nahm meine Mutter jeden Tag mit, wenn sie Stunden zu geben hatte, aber während der Sommerferien trafen sie sich nie. Ich hatte Mildred nie kennengelernt, aber meine Mutter sagte, ihre Freundin habe zurzeit persönliche Probleme, die sie mit einer anderen Frau bereden müsse. Es würde nicht lang dauern. Berner und ich könnten die übriggebliebenen Salamisandwiches essen, falls wir Hunger bekämen. Sie würde später Abendessen machen.
    Dann fuhr Mildreds Auto vor, und sie hupte. Meine Mutter beeilte sich, die Stufen hinunter und ins Auto zu kommen – einen braunen Viertürer-Ford, der sofort wieder wegfuhr. Es kam mir vor, als rührten meine merkwürdigen Empfindungen von meiner Mutter her.
    Eine Weile später kam Berner aus ihrem Zimmer, und wir aßen etwas Salamisandwich und Käse. Unser Vater war immer noch nicht zurückgekommen. Berner schlug vor, den Käse an den Fluss mitzunehmen

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