Kanada
wirklich, ich könnte mit dir auf den Jahrmarkt gehen.« Er starrte mir direkt in die Augen, als wollte er mir eigentlich etwas ganz anderes sagen. Oder als hätte ich mich in eine Lüge verstrickt, und er versuchte mir klarzumachen, dass es wichtig war, nicht zu lügen. In diesem Augenblick log ich aber nicht.
»Heute ist der letzte Tag«, sagte ich. Das stand in der Zeitung, auf der er seine Schuhe putzte. Er hatte es wahrscheinlich gesehen und es deshalb angesprochen. »Wir könnten immer noch hingehen.«
Er sah aus dem Fenster, als ein Auto vorbeifuhr, dann wieder auf den Globus. »Das weiß ich«, sagte er. »Nur geht’s mir heute nicht gerade bombig.«
Wir hatten einmal in Mississippi einen durch das County tourenden Jahrmarkt besucht, der seine Zelte nicht weit von unserem damaligen Haus aufschlug. Mein Vater und ich gingen eines Abends hin. Ich warf mit Gummibällen nach Lumpenpuppen mit roten Pferdeschwänzen, traf aber keine. Dann schoss ich mit einem Gewehr, das mit Korken geladen war, warf ein paar schwimmende Enten um und gewann ein Päckchen süße, kreidige Drops. Mein Vater ließ mich allein, während er in ein Zelt ging und eine Vorführung anschaute, für die ich nicht alt genug war. Ich stand draußen im Sägemehl, lauschte den Stimmen der Leute und der Karussellmusik und dem Gelächter, das aus dem Gruselkabinett drang. Der Himmel war gelb von den Jahrmarktlichtern. Als mein Vater mit einer Gruppe anderer Männer wieder herauskam, sagte er, das sei ein Erlebnis gewesen, sonst aber nichts. Wir fuhren zusammen Autoscooter und aßen Karamellbonbons und gingen dann nach Hause. Seitdem war ich nicht mehr auf dem Jahrmarkt gewesen, und das eine Mal hatte mich auch nicht sonderlich begeistert. Die Jungen aus dem Schachclub hatten erzählt, dass der Jahrmarkt von Montana Stände mit Vieh und Geflügel und Landwirtschaft hätte und kaum etwas Lustiges. Aber für die Bienen interessierte ich mich trotzdem.
Mein Vater atmete durch die Nase aus, während er die Schuhcreme in das Leder seiner Stiefel einarbeitete. Er roch durchdringend, stärker als Cat’s Paw – ein säuerlicher Geruch, den ich dem Umstand zuschrieb, dass er sich nicht wohlfühlte. Er lehnte sich zurück, legte den Putzlumpen weg und rieb sich mit den Händen das Gesicht, als wollte er es waschen, dann zog er sie durch seine Haare nach hinten, was den Geruch noch verstärkte. Er kniff die Augen zusammen und schlug sie wieder auf.
»Weißt du, als ich ein kleiner Junge in Alabama war, hatte ich einen Freund, der in unserer Straße wohnte. Und ein anderer Nachbar, ein alter Arzt, der seine Praxis im selben Haus hatte wie mein Freund, lud ihn einmal zu sich ein. Und dann versuchte er, dummes Zeug mit meinem Freund zu treiben, das sich nicht gehört.« Die dunkel schillernden Augen meines Vaters konzentrierten sich auf die Schuhcremedose, dann hob er dramatisch den Blick zu mir. »Verstehst du, was ich sagen will?«
»Jawohl, Sir«, sagte ich, obwohl ich nichts verstand.
»Mein Freund, er hieß Buddy Inkster, sorgte natürlich dafür, dass er damit aufhörte. Er ging sofort nach Hause und erzählte es seiner Mutter. Und weißt du, was seine Mutter sagte?« Mein Vater blinzelte mich an und legte prüfend den Kopf schief.
»Nein, Sir.«
»Sie sagte: ›Buddy, sag dem Alten, er soll den Quatsch lassen!‹«
Meine Schwester ließ ihr Badewasser einlaufen. Trotz des Ventilators war mir heiß in meinen Kleidern. Ich hatte angefangen, unter meinem Hemdkragen zu schwitzen. Die Badezimmertür ging zu und wurde verriegelt.
»Weißt du, was seine Mutter meinte?« Mein Vater nahm den Deckel der Schuhcremedose und drückte sie behutsam mit zwei Fingern wieder drauf. Es klickte leicht. »Wenn das heute passieren würde, käme er – ich meine den alten Knochensäger – natürlich ins Gefängnis, und die Leute wären mit Mistgabeln und Fackeln hinter ihm her. Weißt du?« Ich wusste es nicht. Draußen auf der Straße hupte ein Auto, ließ den Motor aufheulen, brauste davon. Mein Vater schien es nicht zu hören. »Also, sie wollte Buddy sagen, dass er lernen sollte, mit den Dingen zu leben, wie sie sind, und sich um seinen eigenen Kram zu kümmern. Verstehst du das?«
»Ich glaube, ja.« So ungefähr hatte ich es mir schon gedacht.
»Manchmal können einem schlimme Dinge passieren, einfach so«, sagte mein Vater. »Aber man lebt weiter, man steht sie durch.« Seine Geschichte sollte eine bestimmte Wirkung auf mich haben. Er schien mir klarmachen
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