Kanada
einsdreiundsiebzig. Sie hatte auch etwas Weiches, wie unser Vater, aber sie zeigte es nicht, so als gäbe es diese Seite gar nicht, was wohl eher unserer Mutter entsprach. Wir waren beide ziemlich klug, ebenfalls wie sie. Aber Berner war praktisch begabt, was auf keinen Elternteil zutraf. Berner war auch launisch und ließ sich entmutigen, ähnlich wie Vater und Mutter, und sie neigte dazu, irgendwann Scheitern und Schicksal anzunehmen, was ich nie getan habe.
Aber als unsere Eltern von ihrem Banküberfall in North Dakota heimgekehrt und wir alle wieder zusammen waren – bevor die Kriminalbeamten kamen –, erschienen sie Berner und mir fast sofort weniger unterschiedlich. Sie waren sich nun über vieles einig, seufzten nicht ständig über den anderen und ließen das Herumgezanke bleiben, bauten sich nicht mehr als Gegner oder Gegenspieler auf – das hatten wir noch nie erlebt. Ich fand, dass sie diese neue Verbindung schon vor ihrer Abreise gefunden hatten, an jenem überraschend gut gelaunten Abend.
Gott weiß, was ihnen an den Tagen unmittelbar nach dem Überfall alles durch den Kopf ging. Irgendwo in unserem Haus war das gestohlene Geld. Bestimmt fühlten sie sich ausgesetzt in der feindlichen Welt, die sie jetzt umgab (und in der sie einen Tag zuvor noch unsichtbar gewesen waren). Ihr früheres Leben, mit dem sie aus ihren je eigenen Gründen die Geduld verloren hatten, muss ihnen verwirrend und plötzlich unerreichbar vorgekommen sein – das Floß war zu weit hinausgetrieben worden, der Ballon zu hoch aufgestiegen. Die Vergangenheit war brutal beendet und die Zukunft gefährdet. Das kann sie aber auch vereint haben: ein unerwartetes gemeinsames Bewusstsein der Folgen. Das hatte sie beide vorher nicht gerade geprägt. Dieses mangelnde Bewusstsein war vielleicht ihr größter Makel. Wo doch beide schon erlebt hatten, dass Handlungen nicht ohne Folgen blieben.
Auf das zweite Thema kam ich erst, nachdem ich die Chronik meiner Mutter gelesen hatte – Jahrzehnte nach ihrem Selbstmord im Gefängnis –, nämlich als ich erfuhr, dass mein Vater lieber mich als sie zum Komplizen gehabt hätte. Da hätte ich gern gewusst: Hätte er mir erklärt, dass er eine Bank ausrauben wollte und dass ich ihm dabei helfen sollte? Welche Worte hätte er gewählt, um das einem Fünfzehnjährigen zu erklären? Wäre er am Donnerstagmorgen in mein Zimmer gekommen, wo ich gerade wach wurde, hätte mich um ein Gespräch unter vier Augen gebeten und es mir dann mitgeteilt? Oder hätte er damit gewartet, bis wir im Auto ostwärts durch das Musselshell-Tal fuhren, und das abwegige Thema dann angeschnitten? Hätte er es mir in dem Moment gesagt, als wir Creekmore erreichten? Oder hätte er es mir nie gesagt, mich nur als Tarnung benutzt, mich im Auto hinter der Bank ahnungslos warten lassen, bis er wiederkam?
Und wenn er es mir gesagt hätte, wie hätte ich antworten können? Mit Nein? Wäre ein Nein überhaupt möglich gewesen? (Theoretisch schon.) Natürlich hätte ich ja gesagt, oder ich hätte gar nichts gesagt und wäre mitgefahren. Ich war nicht aufsässig oder frech wie meine Schwester. Ich liebte ihn und wollte die Dinge gern genauso sehen wie er. Wenn ich sein Komplize geworden wäre, was hätte sich dadurch zwischen uns verändert? Vermutlich alles. Wäre ich innerhalb eines Tages erwachsen geworden? Wäre mein Leben ruiniert worden? Wären wir dann eher Brüder gewesen statt Vater und Sohn? Wäre ich heute Verbrecher statt Lehrer? Alles möglich.
Was eine andere Frage aufwirft: Was wäre geschehen, wenn wir zusammen erwischt worden wären – verhaftet und ins Gefängnis geworfen; oder von der Polizei gestellt wie Bonnie und Clyde, erschossen und zum Fotografieren präsentiert? »Mann begeht Bankraub mit Sohn. Beide erschossen.« In dieser Richtung zu denken, das mutete er sich nicht zu, und meine Mutter ersparte mir dieses Schicksal.
Und wenn die beiden nicht erwischt worden wären, hätten sie nie wieder eine Bank überfallen? Das ist die dritte Frage, die ich mir stellte. Meine Mutter ganz sicher – soweit man so etwas überhaupt sagen kann. Sie hatte einen guten Grund, es einmal zu tun – zumindest sehe ich es so: um ihr unbefriedigendes Leben hinter sich zu lassen. Wäre dieses Ziel erreicht worden, hätte sie bestimmt irgendwo anders ein neues Leben angefangen (mit Berner und mir). Schließlich war sie erst vierunddreißig.
Bei meinem Vater kann man da weitaus weniger sicher sein. Er hatte etwas für Bankraub
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