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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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und an die Enten und Gänse zu verfüttern, was wir öfter mal machten. Wenn wir nicht zur Schule gingen oder zu Hause bei unseren Eltern saßen, sie beobachteten und von ihnen beobachtet wurden, hatten wir wenig zu tun. Kind zu sein hieß unter diesen Umständen meistens nur Warten – darauf, dass »sie« irgendetwas machten, oder aufs Älterwerden, was sehr weit weg schien.
    Der Fluss war nur drei Straßen entfernt von unserem Haus, in der entgegengesetzten Richtung wie der Italiener. Berner trug eine Sonnenbrille und weiße Spitzenhandschuhe, mit denen sie ihre Warzen verbarg. Unterwegs ließ sie mich wissen, dass laut Rudy Patterson Castro bald die Atombombe haben und dann als Erstes Florida in die Luft jagen würde. Das werde einen Weltkrieg auslösen, dem keiner von uns entkommen würde – was ich aber nicht glaubte. Außerdem trügen Mormonen Spezialkleidung, um sich vor Nicht-Mormonen zu schützen, und dürften sie auf keinen Fall ausziehen. Dann erzählte sie mir, dass sie jetzt immer nachts aus ihrem Schlafzimmerfenster kletterte, um sich mit Rudy zu treffen, der oft das Familienauto klaute. Sie würden dann immer auf die Klippe beim Flugplatz fahren und dort parken, wo sie die Lichter der Stadt sehen konnten, Radiosender aus Chicago und Texas hörten und Zigaretten rauchten. Da hatte sich Rudy auch über Castro ausgelassen und dass er ernsthaft aus Great Falls wegwollte. Er fühle sich älter, als er eigentlich sei, erzählte Berner, habe schon Haare auf der Brust und könne leicht für achtzehn durchgehen. Ich wollte viel lieber wissen, was sie sonst noch im Auto machten. »Wir haben uns geküsst. Nichts Schlimmes«, sagte Berner. »Ich mag seinen Mund nicht so, und dann dieser kleine Schnauzer. Rudy riecht nicht gut. Er riecht nach Erde.« Dann zeigte sie mir einen blauen Fleck unter ihrem Rollkragen. »Den hat er mir verpasst«, sagte sie. »Ich hab ihn dafür verkloppt. Mutter würde Anfälle kriegen.« Ich wusste, was das war. Ein Junge in der Schule hatte es ein »Zungentattoo« genannt. Er hatte eins an genau derselben Stelle gehabt wie Berner. Es täte weh, wenn man eines kriegte, hatte er behauptet. Ich begriff nicht, wer auf so eine Idee kam. Damals hatte mir noch niemand Sex erklärt. Ich wusste nur, was ich aufgeschnappt hatte.
    Eine Zeitlang standen wir in den Gräsern am Fluss, wo Grashüpfer und Fliegen am Rand des zischenden, schillernden Wassers herumwitschten und summten. Autos schepperten über die nahe Central-Avenue-Brücke. Der Mittag war heiß und still. Die Eisenhütte hinterließ immer einen bitteren, metallischen Geschmack in der Luft, und der Fluss selbst schmeckte auch nach Metall und war kühl nahe der Oberfläche. Die hohen Gebäude in Great Falls – Milwaukee Road und die Depots der Great Northern, das Rainbow Hotel, die First National Bank, die Great-Falls-Pharmafabrik – standen auf der anderen Flussseite und sahen geradezu exotisch aus. Ein Weißkopfseeadler segelte knapp über die flache Decke des Flusses auf Squaw Island und den Anaconda-Schornstein zu – einhundertfünfzig Meter hoch, das beeindruckte mich –, dann landete er auf einem Baum ganz weit drüben und wurde sofort winzig. Felchen tauchten auf für die gelben Käsebröckchen, die wir in die Strömung warfen. Stockenten schwammen dazu und kabbelten sich um die Stückchen, die wieder aufs Ufer und das Schilf zutrieben. Ich fing einen warmen Grashüpfer zwischen meinen beiden Händen ein und legte ihn auf den Wasserfilm. Er kreiste mit der Strömung fort, versuchte seine Flügel zu gebrauchen, versuchte sich zu erheben. Dann verschwand er. Ein großer Air-Force-Tankjet stieg vom Stützpunkt auf. Er drehte nach Süden ab und war außer Sicht, bevor sein Fluglärm uns erreichte. Ich mochte Great Falls, aber es lag mir nie besonders am Herzen. Ich stellte mir vor, in den Western Star einzusteigen und zu irgendeinem College zu fahren, Holy Cross oder Lehigh, und dass danach alles in meinem Leben auf dem Weg wäre.

21
    Als wir zurück nach Hause liefen, brannte uns die Sonne auf den Kopf. Ein feuchter heißer Südwind wirbelte den Staub der Central Avenue auf. Die Reifen vorbeifahrender Autos sirrten auf dem Asphalt, und das Laub der Bäume war staubig und brüchig. In der Luft lag noch keine kalte Schärfe.
    Die Lutheraner waren in ihrer Kirche und feierten eine Hochzeit. Die Vorder- und Seitentüren standen weit offen, und zwei hohe silberne Ventilatoren waren aufgestellt, um die Luft zirkulieren zu lassen.

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