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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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Tür. Mein Vater ging erneut nach draußen auf die Veranda und setzte sich in die Hollywoodschaukel – die Fliegengittertür quietschte auf und wieder zu.
    Dann dachte ich eine Weile über Seattle nach. Ich hatte nur wenige Großstädte gesehen – aber keine wirklich große. Mein Bild von Seattle bestand aus einer Sonne, die sich langsam aus einem dunklen Meer erhob, und Gebäuden, deren Silhouetten im zunehmenden Licht wuchsen. Bloß fiel mir dann ein, dass die Sonne ja von Osten her kam. Das Licht würde aus der Gegenrichtung auf die Gebäude fallen. Ich versuchte, mir die Weltraumnadel vorzustellen, wie die wohl aussah. Eine große Nadel, die hoch in die Luft ragte. Dann muss ich eingeschlafen sein. Als letzten Gedanken weiß ich noch, dass ich mich mit dem Sonnenaufgang vertan hatte und dass ich das nie jemandem erzählen würde.
    In der Nacht, als ich aufstand, um auf die Toilette zu gehen, entdeckte ich meinen Vater allein am Kartentisch, vor ihm sein Niagarafälle-Puzzle wie eine Mahlzeit. Alle Lichter im vorderen Teil des Hauses brannten. Die Niagarafälle waren fast fertig. Nur ein paar blasse Teile gezackter Himmel mussten noch eingesetzt werden. Er trug die Kleider, die er vorher schon angehabt hatte – das weiße Hemd, mittlerweile zerknittert, und Jeans und seine Stiefel, die an den Spitzen abgestoßen waren –, und roch geduscht und frischrasiert. Er drehte sich nach mir um und schien sich zu freuen, dass ich da war, dabei wollte ich gleich wieder ins Bett.
    Er hatte aber gerade erst angefangen zu reden. »Weißt du, als ich ein Junge war. In deinem Alter …« Er fischte ein Puzzleteil vom Tisch und hielt es zur Musterung hoch, versuchte dann, es in die leere Himmelsfläche einzusetzen, wo es auch auf Anhieb perfekt hineinpasste. Unter seinen Fingernägeln war immer noch Schuhcreme. »… war ich ein ziemlich guter Sportler. Sport war das Wichtigste. Sonst gab es keinen Grund zur Freude. Du weißt ja sicher, was die Große Depression war.«
    Ich hatte schon etwas über Roosevelt und Hoover und den Marsch der Arbeiter und die Brotverkaufsschlangen gelesen, für Sozialkunde. Ich sagte: »Jawohl, Sir.«
    »Tja …« Er versuchte es behutsam mit einem anderen Puzzleteil, das nicht passte. Er schüttelte den Kopf. »Ich hätte in Sport sehr gut werden können – auch in Football und Baseball. Nur dass mir nie jemand irgendwas beibrachte. Verstehst du? Die Trainer machten das nicht. Entweder man war ein Naturtalent und hielt sich so über Wasser, oder man soff ab. Und so …« Er lächelte, als freute er sich sehr, mir das zu erklären. »… bin ich abgesoffen.« Er räusperte sich und schluckte. »Deshalb bin ich zur Armee gegangen. Nicht direkt. Aber bald.« Er nahm ein kleineres Puzzleteil und drückte es sanft in einen leeren Zwischenraum. Als es hineinpasste, gab er ein Summen von sich. Nur noch vier Teile, die nicht an ihrem Platz lagen. Er drehte sich auf seinem Stuhl um und musterte mich. Ich trug meine blau-weiß gestreifte Pyjamahose und war barfuß. »Warum bist du wach?«, fragte er. »Hast du Sorgen?«
    »Nein, Sir«, sagte ich. Dabei hatte ich welche. Die Schule. Wegzufahren. Warum er nicht mit uns wegfuhr. Warum uns die Polizei folgte und vor unserem Haus patrouillierte. Ich hatte massenhaft Sorgen.
    »Na, großartig«, sagte er. »So sollte das auch sein, wenn man fünfzehn ist. Das bist du doch?« Er lehnte sich entspannt auf seinem Esszimmerstuhl zurück.
    »Jawohl, Sir«, sagte ich.
    Er nahm ein Puzzleteil und kratzte sich damit am Ohr. »Ich glaube, deine Mutter spart sich für etwas auf. Das hat sie möglicherweise immer getan. Ein zukünftiges Leben. Ich werfe ihr das nicht vor. Aber ich bereue auch nicht, sie geheiratet zu haben. Sonst hätten wir ja nicht dich und deine Schwester.« Er betrachtete das Puzzleteil, als klebte irgendetwas Interessantes dran. »Im Moment ist sie mir gegenüber ein bisschen vorwurfsvoll. Aber das wird sie alles klarkriegen, sobald ihr in Seattle seid. Sie ist ja auf dem College gewesen – anders als ich.«
    »Warum warst du nicht auf dem College?« Ich wollte ihn eigentlich fragen, warum er nicht mit uns kam und warum sie ihm gegenüber vorwurfsvoll war, aber stattdessen hatte ich diese andere Frage gestellt. Das hatte ich nämlich immer schon wissen wollen.
    »Das Thema kam einfach nie auf.« Er wirkte unbeteiligt. »Man fand mich insgesamt schon klug genug. Für meine Verhältnisse. Was vermutlich stimmte.«
    »Kommst du mit nach Seattle?« Ich

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