Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
Vom Netzwerk:
übermannte mich, und so ließ ich alles dahinfahren.

26
    »Möchtest du dein Abendessen?«, fragte meine Mutter leise und beugte sich über mich. Ihre Brillengläser fingen von irgendwoher hinter ihr Licht ein. Ihre Handfläche lag an meiner Wange, ihre Finger rochen nach Seife. Sie strich mir übers Haar und hielt meine Ohrmuschel leicht zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich hatte mich in meine Bettdecken verstrickt und konnte die Arme nicht bewegen. Meine Hände waren eingeschlafen. »Du glühst ja«, sagte sie. »Fühlst du dich krank?« Sie ging ans Fußende meines Bettes und betastete die Decke. »Da hat’s reingeregnet.«
    »Wo ist Berner?« Ich dachte, sie sei schon weg.
    »Gegessen und schlafen gegangen.« Meine Mutter zog das Fenster zu.
    »Wo ist Dad?« Irgendetwas furchtbar Anstrengendes war durch mich hindurchgegangen. Mein Mund war pappig, die Haare klebten mir am Schädel. Die Gelenke schmerzten.
    »Der ist noch da.«
    Sie wandte sich zum Gehen. Das Licht im Flur war bernsteingelb. Wasser sickerte hinter den Wänden herunter oder draußen. »Es hat die ganze Zeit geregnet«, flüsterte sie. »Jetzt hat es aufgehört. Ich hab dir ein Sandwich gemacht.«
    »Danke«, sagte ich. Sie schlüpfte aus meinem Zimmer und verschwand.
    Am Esszimmertisch aß ich das gegrillte Käsesandwich mit sauren Gurken und einem Salatblatt und French Dressing – das mochte ich alles. Ich hatte Hunger und aß hastig und trank ein Glas Buttermilch. Mein Vater war von ihren regenerierenden Eigenschaften überzeugt. Meine Kleider waren zerknittert und klamm. Im Haus war es kühl und roch sauber, als hätte der Wind alles geschrubbt. Dabei hatten wir es selbst vor Tagen geschrubbt. Es war halb elf, eigentlich die falsche Zeit, um sich an den Tisch zu setzen und Abendbrot zu essen.
    Ich hörte die Stiefelabsätze meines Vaters auf den Dielenbrettern der vorderen Veranda. Sein Rücken passierte das Fenster. Ab und zu hustete er und räusperte sich. Mehrere Autos fuhren vorbei – das Licht ihrer Scheinwerfer fiel schräg durch die nicht ganz geschlossenen Vorhänge. Ein Wagen blieb am Bordstein stehen. Ein starker Lichtstrahl wurde eingeschaltet und leuchtete aufblitzend im feuchten Garten herum. Man konnte nicht erkennen, wer drin saß. Von der dunklen Veranda aus sagte mein Vater: »Guten Abend, Leute. Willkommen. Wir sind alle da, und das Abendessen steht auf dem Tisch.« Er lachte laut. Das Licht ging aus, und das Auto tuckerte von dannen, ohne dass jemand ein Wort gesagt hätte oder ausgestiegen wäre. Mein Vater lachte wieder und tigerte auf und ab, ein paar Töne pfeifend, die keine Melodie ergaben.
    Meine Mutter war in ihr Schlafzimmer zurückgegangen. Von meinem Platz am Tisch aus konnte ich sie sehen. Ihr Koffer war inzwischen noch voller geworden. Sie faltete Kleider zusammen und legte sie hinein. Sie warf einen Blick durch die Tür, und aus irgendeinem Grund erschrak ich darüber, gesehen zu werden. »Komm mal herein, Dell«, sagte sie, »ich möchte mit dir reden.«
    Ich ging auf Strümpfen zu ihr. Mein Körper fühlte sich schwer an, als hätte ich zu viel gegessen. Ich hätte mich am liebsten auf ihr Bett gelegt und wäre unter ihren Augen eingeschlafen.
    »Wie war das Sandwich?«
    »Warum packst du?«
    Sie legte weiter Kleider zusammen. »Ich hab mir überlegt, wir könnten morgen mit dem Zug nach Seattle fahren.«
    »Wann kommen wir wieder?«, fragte ich.
    »Wenn wir so weit sind.«
    »Kommt Berner mit?«
    »Ja. Ich hab ihr schon alles erklärt.«
    »Und Dad?« Die Frage hatte ich schon einmal gestellt.
    »Nein.« Sie ging zum Schrank und hängte die leeren Bügel hinein, die auf dem Bett gelegen hatten.
    »Warum nicht?«
    »Er muss noch einige Geschäfte zu Ende bringen. Er ist gern hier.«
    »Was werden wir in Seattle machen?«
    »Nun«, sagte meine Mutter in ihrer geschäftsmäßigen Stimmlage. »Es ist eine richtige Großstadt. Du wirst deinen Großeltern begegnen. Sie wollen dich und deine Schwester kennenlernen.«
    Ich starrte sie durchdringend an, so wie Berner mich immer anstarrte. Sie hatte nicht gesagt, warum wir fuhren, und ich wusste, das durfte ich auch nicht fragen.
    »Was ist mit der Schule?« Mein Herz schlug schneller. Ich wollte auf keinen Fall beim Schulanfang fehlen. Das passierte mit Jungen, die man dann nie wieder zu Gesicht bekam. Meine Kehle wurde eng. Meine Augen brannten, als stünden schon die Tränen darin.
    »Mach dir deswegen keine Sorgen.«
    »Ich habe schon eine Menge Pläne

Weitere Kostenlose Bücher