Kanada
wusste, dass dem nicht so war, aber ich wollte so tun, als wäre es immer noch möglich.
»Ich bin glücklich hier. Das habe ich dir doch heute Nachmittag gesagt. Ich werde hier sein, wenn ihr zurückkommt. So hat es deine Mutter geplant.«
»Wirst du wieder arbeiten?«
Er lächelte breit und fuhr sich von neuem mit dem Puzzleteil übers Ohr. »Wenn die mich wollen. Ich stehe ja noch am Anfang. Aber ich glaube, ich habe ein Händchen dafür.« Er hielt das Teil hoch und drehte es demonstrativ hin und her. Diesen Trick hatte er Berner und mir oft vorgeführt, als wir klein waren. Seine Augen wurden rund. Ein Lächeln zuckte in den Mundwinkeln, als wäre er unsicher wegen irgendetwas geworden. Plötzlich stopfte er sich das Puzzleteil in den Mund, kaute und schluckte es mit großer Geste, danach räusperte er sich und hustete übertrieben. »Jungejunge«, sagte er. »Das war lecker. Puzzles schmecken mir besser als Münzen und Knöpfe.«
»Es ist in deiner Hand«, sagte ich. Ich berührte mein Ohr, wo solche Dinge oft wieder auftauchten.
»Ich hab’s gegessen«, sagte er. »Möchtest du auch eins? Drei sind noch da.« Er nahm eins der letzten Teile.
»Es ist in deiner Hand«, wiederholte ich.
Er legte beide Hände auf die Knie, klopfte darauf und nickte. Ich wartete darauf, dass er das Teil präsentierte. »Geh mal ins Bett, Colonel«, sagte er. »Du hast einen anstrengenden Tag vor dir. Wie wir alle.« Er streckte den Arm aus, packte mich an der bloßen Schulter und zog mich an sich, so dass ich seinen großen Körper spüren konnte – ganz warm und nach Zitrone riechend. Er klopfte mir dreimal auf den Rücken, dann hielt er mich auf Armeslänge von sich entfernt und schaute ernst drein. Ich wartete immer noch auf das Wiederauftauchen des Puzzleteils, wie ein Narr. »Wenn ihr wieder da seid, arbeiten wir mal ein bisschen an deiner Fitness«, sagte er. »Du brauchst noch ein paar Muskeln dazu. Das machen wir, wenn ich dich wiedersehe.«
»Wo ist das Puzzleteil?«, fragte ich.
Er zeigte auf seinen Bauch. »Da unten irgendwo«, er sah nach unten und piekte hinein. »Es ist nicht jedes Mal ein Trick. Das ist das Geheimnis des Zauberers. Gute Nacht.«
28
Die Sonne schien durch das nasse Laub in mein Zimmer herein, ein durchbrochenes Rechteck Licht auf dem Boden und am Fußende meines Bettes.
Die Sonntagsglocke der Lutheraner hatte mich geweckt. Ich war auch in der Nacht wach gewesen, oder ich hatte einen so lebhaften Traum gehabt, dass ich meinte, die Dinge getan zu haben, die ich geträumt hatte. Eine Fledermaus hatte sich in meinem Fliegengitter verfangen. Ich war aus dem Bett aufgestanden, hatte das Fenster höher geschoben und mit einem Radiergummi gegen das Fliegengitter geklopft, behutsam, um das Tier nicht durch die kleinen Löcher hindurch zu verletzen. Ich sah das winzige verzerrte Menschengesicht, die seidige graue Haut, die zuckenden Flügel. Die Fledermaus starrte mich an, als hätte ich sie gerufen. Ich pochte leicht gegen das Fliegengitter. Sie sah sich links und rechts um. Dann verschwand sie, plötzlich frei, und das Fliegengitter war leer.
Ein Wagen hatte in der Seitenstraße angehalten, kurz hinter der Garage, mit laufendem Motor, die Abgase hingen schwer in der Luft. Drinnen Licht. Zwei Männer im Anzug waren zu sehen. Der eine las dem anderen am Steuer etwas vor – er hielt ein Blatt weißes Papier in der Hand. Sie beugten sich beide herüber und betrachteten unser Haus, zwischen den Pfosten der Wäscheleine hindurch. Sie konnten mich nicht sehen, hinter mir war es dunkel. Einer der Männer zeigte aber auf mich, und dann ging ihr Licht aus. Der Motor heulte auf. Durchdrehende Reifen ließen den feuchten Schotter aufspritzen. So endete der Traum.
Ich hörte Berners Stimme im Flur. Ich lag da und starrte auf die Wasserflecken an der Decke – abblätternde Stellen mit rostroten Linien, wie Bundesstaaten auf der Landkarte. Wann die Glocke der Lutheraner geläutet hatte, wusste ich nicht. Ein Hund hatte eine Straße weiter gebellt. Vielleicht wurde unsere Reise nach Seattle verschoben. Wenn ich im Bett bliebe, geriete sie vielleicht in Vergessenheit. Ich wollte nicht fahren.
Ich hörte meine Mutter kurz angebunden mit Berner sprechen. Fast augenblicklich danach ging meine Tür auf, und meine Mutter stand da, sie wirkte verärgert und entschlossen. »Ich hab dich schlafen lassen. Aber jetzt müssen wir los.« Sie hatte den rosa Kissenbezug mit den weißgewellten Rändern von ihrem Bett
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