Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
Vom Netzwerk:
gemacht.«
    »Ich weiß. Wir alle haben Pläne gemacht.« Sie schüttelte den Kopf, als wäre dies ein dummes Gespräch. Sie sah mich an und blinzelte einmal hinter ihrer Brille. Sie wirkte müde. »Du musst flexibel sein. Wer das nicht ist, kommt nicht weit im Leben. Ich versuche, flexibel zu sein.«
    Ich meinte zu wissen, was das Wort bedeutete, aber es schien zusätzlich noch etwas anderes zu bedeuten. Genau wie »sinnvoll und vernünftig«. Ich wollte nicht zugeben, dass ich das nicht sei, was immer flexibel jetzt hieß.
    Draußen vorm Haus erhob sich der Wind und blies die Regentropfen aus dem Laub prasselnd aufs Dach. Drinnen war es vollkommen still.
    Meine Mutter trat ans Schlafzimmerfenster, legte ihre Hände an die Schläfen und spähte durch die Scheibe nach draußen. Das Zimmer und sie und ich und das Bett mit dem Koffer und ihren Kleidern darin spiegelten sich. Sie war sehr klein vor dem Fenster. Hinter ihr konnte ich nur Umrisse und Schatten erkennen. Die Garage mit den blassen Malven und Zinnien daneben. Die leere Wäscheleine, von der sie die sauberen Sachen abgenommen hatte. Einen Eichenschössling, den mein Vater gepflanzt und mit einem Pfahl gestützt hatte. Sein Auto. »Was weißt du über Kanada?«, fragte sie. »Hm?« Diesen Laut machte sie, wenn sie freundlich sein wollte.
    Kanada lag im Puzzle meines Vaters hinter den Niagarafällen. Ich hatte das Land noch nie in der Enzyklopädie nachgeschlagen. Es lag nördlich von uns. Heiße Tränen standen in meinen Augen. Ich atmete aus, so tief ich konnte, und hielt den Atem an. »Warum?« Meine Stimme war abgeschnürt.
    »Ach.« Sie lehnte die Stirn an die Scheibe. »Ich habe mir angewöhnt, die Dinge nur so zu sehen, wie sie mir dargestellt werden. Ich fände es schön, wenn du das anders lernst. Es ist eine Schwäche von mir.« Sie klopfte leicht mit dem Fingernagel an die Scheibe, als wollte sie jemandem draußen im Dunkeln ein Zeichen geben. Sie nahm die Brille ab, hauchte die Gläser an und wischte mit ihrem Blusenärmel drüber. »Deine Schwester ist anders«, sagte sie.
    »Sie ist viel schlauer als ich.« Ich rieb mir schnell die Augen und wischte meine Hand am Hosenbein ab, damit es nicht auffiel.
    »Das ist sie wohl. Die Ärmste.« Meine Mutter drehte sich um und lächelte mich freundlich an. »Geh doch einfach wieder ins Bett. Morgen früh ist Abmarsch. Der Zug fährt um halb elf.« Sie legte den Finger auf den Mund, damit ich schwieg. »Du brauchst nur deine Zahnbürste mitzunehmen. Lass alles hier. Ja?«
    »Kann ich meine Schachfiguren mitnehmen?«
    »Gut«, sagte sie. »Mein Dad spielt Schach. Hat er früher jedenfalls. Dann habt ihr beide was, worüber ihr euch streiten könnt. Also, ab mit dir.«
    Ich verließ ihr Zimmer. Sie wandte sich wieder dem Koffer zu. Zu allem anderen, das ich noch hätte sagen oder fragen wollen – über die Polizei, die Schule, Berners Flucht, unser Reiseziel –, gab es keine Gelegenheit mehr. Es war genau, wie ich schon sagte: Es passierte etwas rings um mich her. Meine Rolle bestand darin, es irgendwie hinzukriegen, dass ich normal blieb. Kinder kennen das besser als jeder andere: normal.

27
    Später kam meine Mutter noch mal herein und steckte mir eine trockene Decke unter die Füße, wo auch die Matratze feucht geworden war. Ich ließ die Augen geschlossen, bemerkte aber den Mottenkugelgeruch der Decke. Die Tür fiel sanft ins Schloss, und ich hörte sie an Berners Tür klopfen. Berner sagte: »Mir tut der Bauch weh.« Meine Mutter antwortete: »Daran wirst du dich gewöhnen. Ich bringe dir eine Wärmflasche.« Ihre Tür ging zu, kurz darauf kehrte meine Mutter zurück, und sie redeten noch ein wenig. Berners Bett quietschte. »Natürlich, natürlich«, hörte ich meine Mutter sagen. Dann ihre Schritte in die Küche, wo der Wasserhahn aufgedreht wurde.
    Der Regen hörte endgültig auf, und kühle Luft drang wieder in mein Zimmer. Ich hatte gedacht, vielleicht würde ich das Feuerwerk vom Jahrmarkt hören, und deshalb das Fenster ein Stückchen hochgeschoben. Aber ich hörte nur den Ofen der Eisenhütte pfeifen und eine Sirene irgendwo in der Stadt. In der Luft hing der starke Geruch nach Kühen, der von den Frachthöfen kam. Ich hörte die Schritte meines Vaters, dann ihre beiden Stimmen im Gespräch. Sie redeten nur kurz, abgehackt, dann folgte Stille, als hätten sie sich nur wenig zu sagen. Kurz darauf kehrte meine Mutter – ich erkannte ihre Schritte – in ihr Schlafzimmer zurück und schloss die

Weitere Kostenlose Bücher