Kanada
dabei. »Tu alles, was du mitnehmen willst, einfach da rein.« Sie kam ins Zimmer und ließ den Kissenbezug auf mein Bett fallen. »Nimm nicht viel mit. Wir kaufen dir alles, was du neu brauchst, da, wo wir hinfahren.« Sie starrte mich an. Ich hatte die Decke bis ans Kinn gezogen, das Sonnenlicht durchschnitt den Boden und ein Stück der weißen Wand. Unsere Mutter trug wieder das grüne Wollkostüm mit den rosa Karos, aber diesmal mit einer weißen Bluse. So sah sie kleiner und jünger aus. Ihre Gesichtszüge hatten sich um ihre Nase und Brille zusammengezogen. »Deine Schwester ist schon angezogen«, sagte sie. »Noch mal will ich dich nicht auffordern.« Sie verschwand und ließ meine Tür offen stehen, als Warnung.
Ich zog mich hastig an. Zeit für eine Dusche schien nicht zu sein. In den Kissenbezug steckte ich meine Balsaschachtel mit den Schachfiguren, meine Schachmeister -Zeitschriften, meine Schachgrundlagen und mein Bienenverstand -Buch, das ich mir in der Bibliothek ausgeliehen hatte und eigentlich zurückgeben wollte. Ich legte zwei Bände vom Buch der Welt dazu, »B« und »M«, das waren besonders dicke, in denen mehr stand. Ich nahm ein Paar Socken, Jockey-Unterhosen, ein T-Shirt und sonst nichts mit, mein Vater hatte ja gesagt, wir würden zurückkommen. Ich ging ins Bad, putzte mir die Zähne, wusch mir das Gesicht und die Achseln (das nannte mein Vater die »Flieger-Dusche«). Ich kämmte mich und nahm etwas von seinem Wildroot-Haaröl, das ich mitbenutzen durfte. Ich hatte ihn nicht gesehen, nur seine Stimme gehört. »Die Kinder müssen was essen«, hatte er gesagt. »Sie können im Zug essen«, hatte meine Mutter störrisch zurückgegeben.
Berner saß wartend auf der Wohnzimmercouch, sie hatte ihr fließendes grau-blau gepunktetes Kleid an, dazu weiße Tennisschuhe und weiße Söckchen. Ihre Haare waren zu einem Busch zurückgebunden, so wie meistens. Lippenstift trug sie nicht. Sie presste ihre sommersprossigen Knie aneinander und schaute verärgert und bleich drein, als täte ihr immer noch der Bauch weh. Ihre grüne Reisetasche stand zwischen ihren Füßen – ein Geschenk von meinen Eltern zu ihrem fünfzehnten Geburtstag. Auf die Tasche war ein Krokomuster aufgedruckt, und Berner hatte kein Blatt vor den Mund genommen und verkündet, sie fände sie scheußlich. Sie war ein Tombolapreis auf dem Stützpunkt gewesen. Als ich an der Wohnzimmertür vorbeikam, unterwegs in mein Zimmer, starrte sie mich mit toten Augen hinter ihrer Brille hervor an. Das zusammengesetzte Niagarafälle-Puzzle lag immer noch auf dem Kartentisch, es fehlte nur das Teil, das mein Vater aufgegessen hatte. Nun konnte das Puzzle nie mehr vollendet werden, war nutzlos.
Da kam unser Vater aus der Küche, genauso gekleidet wie mitten in der Nacht. Er wirkte groß und lässig und gutgelaunt, obwohl er sich offensichtlich morgens nicht rasiert hatte und sein Gesicht grau aussah. »Du bist jetzt ein erwachsenes Mädchen«, sagte er zu Berner. »Du siehst immer noch aus, als ginge es dir nicht besonders. Bleib lieber zu Hause bei mir.« Offensichtlich wollte sie gerade Widerworte geben, aber die Stimme meiner Mutter kam aus der Küche. »Lass es. Belästige sie nicht. Sie fühlt sich wohl.«
Mein Vater sah sich im Wohnzimmer um, als wäre es voller Leute, die ihm zuhörten. Er nahm mich wahr und zwinkerte. »Sie ist meine Tochter«, sagte er laut. »Ich belästige sie nicht. Ich rede mit ihr. Ich kümmere mich um deine Fische, während du weg bist«, sagte er.
Und das war der Augenblick, als die Türklingel durchs Haus scholl. Mein Vater sah mich an. Er lächelte immer noch und streckte beide Arme auf eine frustrierte Weise aus, die ich schon von ihm kannte, wenn er Verblüffung ausdrücken wollte – Handflächen nach oben, als komme Regen aus der Decke. »Na, ich frage mich, wer das wohl ist«, sagte er und setzte sich in Bewegung, um die Haustür zu öffnen. »Vielleicht sind es diese Mormonen, und sie haben nun die frohe Botschaft für uns, auf die wir warten. Wir müssen einfach nur nachschauen, nicht wahr?«
Aus der Küche sagte meine Mutter: »Wer ist das?«, und ließ einen Teller fallen, der zerbrach, gerade als mein Vater die Tür aufzog für die Botschaft, die auf uns wartete, welche auch immer es war.
29
Von da an musste die Zeit anders gemessen werden. Die nächsten anderthalb Tage – bis Montagmittag – vergingen die Stunden in einem konfusen Galopp. Ich erinnere mich an Einzelheiten, aber an wenige
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