Kanada
aufwache, was ihr oft passiere. Ich glaubte daran, dass, wenn ich nur einschliefe, all diese Ereignisse vorbei sein würden, sobald ich wieder aufwachte. Oder dass es vielleicht ein Traum gewesen war und ich im Zug nach Seattle aufwachen würde, unterwegs mit Berner und meiner Mutter zu einem neuen Leben, wo es auch eine neue Schule gäbe. Es war Mittag oder halb eins. Mein Baby Ben -Wecker ging zehn Minuten nach. Die Glocke der Lutheraner läutete wieder. Der Hund eine Straße weiter fing an zu heulen. Draußen schien hell die Sonne, aber in meinem Zimmer herrschte kühles Halbdunkel. Vögel sangen. Irgendwo hörte ich etwas tropfen. Wie erwartet schlief ich problemlos ein. Und ich schlief lange.
32
Eine Stimme brachte Leben ins Haus, als ich erwachte. Ich dachte gleich an die Polizei – die mit Berner redete, anfing, nach dem Geld zu suchen. Mein Herz hatte sich beruhigt. Aber es fing sofort wieder an zu hämmern. In der Küchenschublade würden sie als Erstes suchen.
Ich riss meine Zimmertür abrupt auf, um jeden zu erschrecken, der dort lauerte, und ihn gegebenenfalls in die Flucht zu schlagen. Dabei war es Berner, die im Flur in den Hörer des kleinen Telefons vor dem Elternschlafzimmer sprach. Sie stand barfuß in ihrem Schlafanzug mit den blauen Elefanten da, wickelte die Telefonschnur um den Daumen und wieder ab, schob sich einen Finger in die dicken Haare und lächelte über etwas, das sie hörte. Ihre Stimme war tiefer. Sie hatte wieder Makeup und Lippenstift aufgelegt. »O ja«, sagte sie. »Ich weiß nicht. Das ist eine gute Idee.« Ihre Stimme klang wie die meiner Mutter. Ich wusste nicht, mit wem sie sprach, aber ich tippte auf Rudy Patterson. Meines Wissens war er der einzige Mensch, den sie kannte, und sie hatte mir erzählt, was sie miteinander machten.
Ich war erleichtert, dass es nicht die Polizei war. Aber mein Gefühl sagte mir eindeutig, dass sie bald wiederkommen würden. Das hatte der ältere Kriminalbeamte ja auch gesagt. Ich ging zum vorderen Fenster und sah hinaus. Unsere Straße und der Park lagen leer im gesprenkelten Sonnenschein da. Die Lutheranerkirche war abgeschlossen. Schatten fielen über unseren Rasen, es sah schön aus. Im Park warf der dicke kleine taube Junge aus unserer Straße, den ich schon öfter gesehen hatte, einen Stock für einen schwarzen Labrador. Der rannte, packte den Stock, brachte ihn zurück und ließ ihn dem Jungen vor die Füße fallen. Dieser streichelte dem Hund den Kopf und sagte irgendetwas. Keine Polizeiautos zu sehen. Ab und zu drehte sich der Junge verstohlen zu unserem Haus um.
Ich ging ans Küchenfenster und spähte nach dem Wagen unseres Vaters. Er war weg. Der Raum, den er neben der Garage eingenommen hatte, war wie eine imaginäre Kiste, in der sich der Chevrolet noch bis vor kurzem befunden hatte und aus der er jetzt verschwunden war. Ich zog sofort die Küchenschublade auf und erwartete, sie leer vorzufinden. Doch da lagen die zwei Zwanzigerstapel unter dem Plastikeinsatz, was mir bestätigte, dass ich nicht träumte. Diese Dinge geschahen alle wirklich.
Ich hob die Scherben des Tellers auf, den meine Mutter hatte fallen lassen, und warf sie in den Abfalleimer unter der Spüle. Es waren große Stücke, ich brauchte keinen Besen. Kurz danach kam Berner in die Küche. Sie wirkte in ihrem Elefantenpyjama ungerührt, als wäre es viel besser, allein in unserem Haus zu sein, als hätte sie lange darauf gewartet und jetzt vor, es in vollen Zügen zu genießen.
»Sie haben sein Auto abgeholt. Ein großer Abschleppwagen«, sagte sie und sah durchs Vorderfenster. »Nettes großes Hundchen da.« Sie beobachtete den stockwerfenden Jungen im Park. Ich wollte das Geld woanders hintun. Ich wollte nichts damit zu tun haben. »Ich glaube nicht, dass jemand kommt«, sagte Berner. Sie kratzte sich unter ihrem Pyjamahosenbund am Hintern, während sie den Jungen mit seinem Hund anstarrte. Ihre Haare standen nach dem Schlaf wild in die Gegend. »Das heißt, wir können tun, wozu wir Lust haben.«
»Warum?«, fragte ich.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem fiesen Lächeln, sie blinzelte mich an und atmete so aus, wie sie es immer tat, wenn sie sich überlegen aufführte. »Ich werde tun, wozu ich Lust habe«, sagte sie. »Und was immer du tust, wird dann das sein, wozu du Lust hast.« Sie richtete ihren Zeigefinger auf ein Ohr, drehte ihn und zeigte dann auf mich. »Du bist ein Spinner«, sagte sie. Das tat sie oft.
»Was hast du vor?«
»Ich weiß es
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