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Kanada

Kanada

Titel: Kanada Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ford
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nicht.« Sie öffnete den Kühlschrank, sah hinein und machte ihn wieder zu. »Nicht nichts jedenfalls. Nichts habe ich schon genug gemacht. Rudy will heiraten.«
    »Das kannst du nicht«, sagte ich. Ich wusste, dass das nicht ging. Wir waren fünfzehn. Sie hatte mir schon gesagt, dass sie nicht heiraten wollte. Gestern hatte sie es gesagt.
    »An manchen Orten darf man. Wir fahren nach Salt Lake City, in Utah. Da ist es besser als hier. Wobei, er ist gar nicht mehr in der Kirche.«
    Es widerte mich an. Alles, was mit mir zu tun hatte, alles, was ich dachte, kam mir auf einmal fadenscheinig vor. Wie sie da im Schlafanzug in unserer Küche stand und vom Heiraten redete, warf einen Schatten auf mich und all meine Überlegungen – als müsste mein Schicksal sich nach ihrem richten und meine Pläne ließen sich einfach zerreißen wie feuchtes Klopapier und wegspülen.
    Dabei hatte ich mir und meinen Plänen gegenüber gar nicht dieses Gefühl. Ich konnte spüren, was mir eigen war. Ich würde mir treu bleiben, egal was sonst passierte. In dem Augenblick kam mein Herz zur Ruhe, was ich als gutes Zeichen nahm. Hätte ich wirklich das Gefühl gehabt, alles wäre verloren und mein Leben wäre vorbei, weil ich an meine Schwester gekettet war, keine Ahnung, was ich getan hätte. Jedenfalls hätte ich kaum auf diesem Moment aufbauen können.
    »Ich werde ja nicht auf der Stelle heiraten«, sagte Berner. Sie drehte sich um und spähte wieder aus dem Fenster. Plötzlich fuhr sie mit einem breiten, verzerrten Lächeln herum. »Mutter hat zu mir gesagt, ich soll auf dich aufpassen.« Und ohne Vorwarnung schossen ihr Tränen aus den Augen. Gut möglich, dass auch ich anfing zu weinen. Wir hatten beide genug Grund dazu. Aber sie unterdrückte es. »Ich bin so scheißwütend auf sie!«
    »Du musst aber nicht weglaufen«, sagte ich. Es war ein schreckliches Gefühl, für uns beide.
    »Doch«, sagte sie. »Ich …« Ich hätte sie so gern umarmt. Es schien das Natürlichste von der Welt zu sein, wenn ich derjenige sein sollte, der alles im Griff hatte. Das Telefon im Flur fing an zu klingeln – ein lautes, schrilles, elendes Klingeln, das die Stille im Haus zerriss. Und so verging dieser Augenblick – Berner und ich, einander fast in den Armen liegend, das klingelnde Telefon, und ansonsten scherte sich nichts und niemand um uns.

33
    Was an dem Sonntag noch geschah, ist nicht ganz klar. Ich weiß noch, dass im Haus eine Atmosphäre von Freiheit herrschte, in der wir uns wohlfühlten. Wir aßen etwas aus dem Kühlschrank – kalte Spaghetti und einen Apfel. Beim Essen schauten wir zum Park hinüber, der im Schatten des Spätnachmittags lag. Autos fuhren vorbei. Manche wurden langsamer, und die Insassen beugten sich zu den Fenstern und starrten Berner und mich an. Einer winkte, wir winkten beide zurück. Mir war schleierhaft, was andere Leute über uns wissen konnten. Dass unsere Mutter uns von jeglicher Anpassung abgeraten hatte, entpuppte sich als gut vorausgedacht, denn wenn ein Bekannter – aus dem Schachclub zum Beispiel – jetzt zum Gaffen gekommen wäre, hätte mich das gedemütigt. Umso mehr, als ich persönlich nichts getan hatte, was eine Demütigung rechtfertigte, außer Eltern zu haben.
    Bevor es dunkel wurde, machten Berner und ich einen Gang um den Block, gegen die Anweisung meiner Mutter, das Haus nicht zu verlassen. Wir taten es, einfach weil wir es konnten. Niemand bemerkte uns. Die Nachbarhäuser lagen alle sonntäglich still und verschlossen da. Mir wurde bewusst, wie schön das Viertel war.
    Als wir heimkamen, setzten wir uns auf die Treppe, schauten in den Himmel, der sich lila verfärbte, sahen den Mond aufgehen und ein paar Lichter in den Fenstern unserer Nachbarn aufblitzen. Ich bemerkte einen Papierdrachen, der sich hoch im Geäst eines Baumes im Park verfangen hatte, und fragte mich, wie man den wohl wieder herunterbekäme. Wir rechneten jeden Moment damit, dass ein Auto vorfahren würde und uns irgendwelche Fremden befehlen würden, mit ihnen zu kommen. Aber niemand erschien.
    Wir sprachen nicht viel von unseren Eltern. Und als wir so auf den Stufen hockten und den Fledermäusen zusahen, die vor dem Mondbuckel durch die dunkler werdenden Bäume zischten, während bleiche Sterne am östlichen Himmel aufgingen, nahmen wir wohl beide an, dass sie getan hatten, was man ihnen vorwarf. Es war alles zu dramatisch gewesen, um nicht wahr zu sein. Sie waren über Nacht fortgeblieben, zum ersten Mal überhaupt. Die

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